Ein böses Erwachen für die iranischen Mullahs

In den Armenvierteln Teherans und anderer iranischer Städte mehren sich die sozialen Unruhen/ Abriß von Armensiedlungen führte zu Massenprotesten/ Mit Fleischimporten und Polizeiknüppeln sucht die Regierung der Spannungen Herr zu werden  ■ Aus Teheran Robert Sylvester

Während der letzten Tage haben die iranischen Behörden in den Teheraner Armenvierteln Hunderte von bewohnten Häuser abreißen lassen. Ähnliche Aktionen wurden auch in anderen iranischen Städten durchgeführt. Die Behörden begründeten die Planierraupeneinsätze damit, daß die Gebäude illegal errichtet worden seien. Seit dem Sturz des Schahs 1979 wurden im allgemeinen Chaos viele Häuser ohne Genehmigung und auf der Basis illegaler Grundbucheintragungen errichtet, die gegen entsprechende Schmiergelder von korrupten iranischen Beamten erteilt wurden. Die Bewohner der in Teheran betroffenen Viertel reagierten mit verzweifelten und zum Teil gewalttätigen Protesten, konnten die Abrisse aber nicht verhindern.

Die letzte große Protestaktion in Teheran hatte dagegen noch einen vergleichsweise moderaten Charakter. Mitte Juni hatten rund tausend Menschen schweigend im Teheraner Stadtteil Naziabad demonstriert. Als Zeichen ihres Protestes gegen die wachsende Armut und gegen die Inflation hatten sie ihre Hosentaschen nach außen gekrempelt. Außerdem hielten sich alle Teilnehmer der Veranstaltung den Mund zu — ihr „Kommentar“ zur scharfen Zensur der öffentlichen Meinung im Iran.

Bereits eine Woche zuvor war es in Mashad in der nordöstlichen Provinz Khorasan zu Protesten gekommen, die einen ganz anderen Verlauf nahmen. Wie am Wochenende in Teheran wurden sie durch den Abriß illegal errichteter Häuser ausgelöst. Rund hunderttausend Demonstranten drangen in Bank-, Regierungs- und Verwaltungsgebäude ein, plünderten sie und setzten sie in Brand. Supermärkte, die nur der Versorgung von Regierungsangehörigen dienten, wurden ausgeräumt, aus zwei Polizeistationen wurden sämtliche Waffen entwendet. Die Demonstranten lieferten sich mit den völlig überraschten Polizeitruppen regelrechte Gefechte und hielten die Stadt drei Tage lang in Atem.

Angefangen hatte die Auseinandersetzung in der Heimatstadt des Khomeini-Nachfolgers Ali Khamenei, als Fahrzeuge der Stadtverwaltung am zehnten Juni in einem der nördlichen Armenviertel anrückten. In Kooye-Taleb, einem Stadtviertel von Mashad, sollte eine ganze Gruppe von Häusern abgerissen werden. Als sich zwei der Hauseigentümer dem Abriß zu widersetzen suchten, wurden sie getötet. Die ganze Nachbarschaft raste daraufhin vor Wut, Regierungsfahrzeuge wurden in Brand gesetzt, und die sie begleitenden Polizisten wurden von einer immer größer werdenden Menschenmenge bis in die Stadtmitte verfolgt. Schon auf dem 15 Kilometer weiten Weg ins Zentrum begannen die aufgebrachten Menschen, staatliche und städtische Einrichtungen anzugreifen. Öffentliche Gebäude wurden angezündet, stapelweise Dokumente herausgeworfen und verbrannt. Autos wurden demoliert, rund 700 aus dem Westen importierte Luxuslimousinen wurden zerstört. Die Polizei, normalerweise äußerst aggressiv, hielt sich diesmal zurück und übergab schließlich sogar die Waffen. Die paramilitärischen Spezialtruppen, die in den Städten eigens für die Niederschlagung von Demonstrationen bereitstehen, ließen sich gar nicht erst blicken. Der Gouverneur von Mashad mußte schließlich durch SOS-Notrufe Truppen in die Stadt rufen lassen.

Die Suche nach den „Verantwortlichen“

Nach diesem Ausbruch des Zorns wurden rund 1.800 Menschen verhaftet, der Chef der Bezirkspolizei wurde degradiert und ins Gefängnis gesteckt. Der Innenminister gab den Befehl, jeden Demonstranten sofort zu erschießen. Trotzdem gingen die Unruhen auch in den folgenden Tagen weiter. Vier Menschen wurden erschossen.

Erst machte die Regierung „Oppositionskreise“ für die Unruhen verantwortlich, später wurde diese Version zurückgezogen. Danach hieß es, „Vandalen und Randalierer“ seien schuld an den Ereignissen, die Sachschaden von rund 20 Millionen DM verursachten und die Mullahs das Fürchten lehrten.

Die Ayatollahs dachten offenbar zunächst, in Mashad und Arak, wo es ebenfalls zu Unruhen hekommen war, handele es sich um die zornige Reaktion von Anhängern des früheren Parlamentspräsidenten Hojatoleslam Karubi, der bei den allgemeinen Wahlen im April eine schwere Niederlage erlitten hatte. Hojatoleslam Tabasi, Stellvertreter von Khamenei mit speziellen Aufgaben, führte die Unruhen hingegen schon damals auf „Plünderer und Rabauken zurück, die vor allem die Geschäfte ausräumen wollten“. Damit traf er zumindest insofern den Kern der Auseinandersetzungen, als es sich in allen diesen Fällen um militante Proteste gegen die wachsende Verlendung handelt.

Die militanten Äußerungen des öffentlichen Unmuts bringen vor allem Staatspräsident Rafsandschani in ein politisches Dilemma. Denn seine Reformpläne haben sich längst als ungeeignetes Mittel gegen das wirtschaftliche Desaster des Iran erwiesen. Die 27 Milliarden Dollar, die er zur Realisierung seines nach Expertenmeinung ohnehin ungenügenden Fünfjahrplanes bräuchte, kann er nur mit Zustimmung der Weltbank aufnehmen, die aber auf einer Rial-Abwertung und einer Streichung von Subventionen besteht. Beides hätte eine weitere Verschärfung der bereits jetzt explosiven Lage zur Folge. Und Rafsandschanis innenpolitische Gegner, die islamischen Hardliner, könnten daraus selbstverständlich politische Vorteile ziehen.

Bereits jetzt erhöhen sich die Preise täglich. Für manche Produkte liegt die Inflationsrate bei 500 Prozent und darüber. Ein Kilo Fleisch kostet schon jetzt umgerechnet etwa 100 DM. Die Gebühren für Strom und Wasser wurden im letzten Monat verdoppelt. Im Iran angebaute Agrarprodukte sind auf den lokalen Märkten nurmehr teuer und selten zu haben, denn sie werden größtenteils für harte Währung ins Ausland exportiert. Die zehnprozentige Lohnerhöhung im Mai kann die Preissteigerungen nicht im mindesten abfangen. Achtzig Prozent der Angestellten im öffentlichen Sektor haben einen zweiten Job, oft als Taxifahrer, um wenigstens das Existenzminimum für sich und ihre Familien zu verdienen.

Die Preise klettern fast täglich nach oben

Die Unzufriedenheit wächst. Dafür ist neben der kontinuierlichen Verschlechterung der Wirtschaftslage auch die Korruption in der Verwaltung verantwortlich. Bis hinauf zum Minister sind Geschenke und Bargeld gang und gäbe. „Unter solchen Umständen ist die Öffentlichkeit bereit, jeder Art von Opposition zu applaudieren“, warnt die Tageszeitung 'Salaam‘, ein Sprachrohr der fundamentalistischen gegen Rafsandschanis eher „pragmatische“ Linie opponierenden Fraktionen in der Regierung.

Rafsandschani hofft jetzt vor allem auf ein Allheilmittel namens Privatisierung. Von den 700 Staatsunternehmen sind bereits 150 verkauft oder an die ursprünglichen Eigentümer zurückgegeben worden, die mittlerweile aus dem US-amerikanischen Exil zurückgekehrt sind. Doch im Bazar und im Privatsektor ist man noch immer mißtrauisch. Niemand ist sicher, ob es nicht plötzlich erneut eine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik geben könnte. Den Stadtverwaltungen wurde nahegelegt, im Umgang mit den Armenvierteln einen etwas gemäßigteren Ton anzuschlagen. Ihre Bewohner sind überwiegend frühere Bauern, die durch die Landreform des Schahs ihre Erwerbsmöglichkeiten in der Landwirtschaft verloren haben. Zur Zeit der islamischen Revolution konnten sich die Mullahs noch auf ihre Gefolgschaft verlassen. Inzwischen hat sich die Landflucht infolge einer weiteren Landreform der islamischen Regierung noch verstärkt.

Die Mullahs können die Armenviertel der großen Städte folglich nicht mehr als ihre politischen Bastionen betrachten — und das wissen sie auch. Die Polizei hat Order, jede Unruhe sofort zu ersticken. Um sicherzustellen, daß sie sich an diese Weisung hält, sind spezielle Kommandos der Revolutionsgarden in den Polizeistationen eingesetzt worden. Gleichzeitig hat die Regierung angekündigt, billiges Gefrierfleisch und Geflügel zu importieren.

„An den dringenden sozialen Problemen kommen Regierung und Opposition jetzt nicht mehr vorbei, was auch immer ihre politischen Ziele sind“, sagt ein politische Beobachter in Teheran. „Wenn sie das nicht tun, könnten sie ein böses Erwachen erleben.“