KOMMENTARE
: Fauler Realismus

■ Der KSZE fällt außer Konflikteindämmung nichts ein

Die Verfassung aller Staaten, so Kant in seinem Traktat Zum ewigen Frieden, sollte republikanisch sein. Der Philosoph war kein Freund hochfliegender Menschheitsprojekte. Als wohltemperierter Menschenfreund hielt er aber konstitutionell und rechtsstaatlich verfaßte Nationen für noch am ehesten in der Lage, ihre Zwistigkeiten auf friedlich-zivilisierte Weise auszutragen. Tatsächlich haben Demokratien in diesem Jahrhundert zwar häufig gegen vermeintlich oder auch wirklich diktatorische Regime Krieg geführt, aber kaum untereinander. Den Staatsleuten, die nach dem Zerfall des sozialistischen Weltsystems 1990 zusammenkamen, um die „Charta von Paris“ zu verabschieden, konnte es deshalb scheinen, als gingen der demokratische Aufbau in Osteuropa und die Grundlegung eines dauerhaften Systems kollektiver Sicherheit Hand in Hand.

Jetzt, wo sich gezeigt hat, daß auch aus freien Wahlen hervorgegangene Regime blutigen Terror gegen das eigene wie gegen fremde Völker ausüben, wo sich herumspricht, daß halbwegs friedliche Verhältnisse im Innern das Wachstum der „Bürgergesellschaft“ mit ihren Kompromissen voraussetzen, verfallen viele der KSZE-Väter in einen äußerst faulen Realismus. 90 Prozent ihrer Energie konzentrieren sie auf Mechanismen der Konfliktlösung vermittels Sanktionen, „Peace- keeping Missions“, auf „Frühwarnsysteme“ und Schadenseindämmung. Sie können sich dabei auf eine öffentliche Phantasieproduktion stützen, die die Regionen des Balkans oder des Transkaukasus als Urwald imaginiert, bewohnt von Eingeborenen im Stadium der Vorzivilisation. Sicher sind die jetzt beschlossenen Institutionen der Konflikteindämmung notwendig, nützlich, ausbaufähig. In den Bereichen aber, wo es um den Schutz und die Entwicklung individueller wie kollektiver Grundfreiheiten geht, mithin um die Basisstrukturen der Demokratie, erlahmt die Entscheidungsfreude der KSZE-Diplomaten. Erst recht bleiben bindende Abmachungen über die Internationalisierung des Umweltschutzes außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Dabei wären Grünhelme noch weit wichtiger als Blauhelme. Sie allerdings müßten auch in den „angestammten“ Demokratien eingesetzt werden.

Wo aber die gesellschaftlichen Verhältnisse der „Sieger“ des Kalten Krieges zur Debatte stehen, gilt wieder wie eh und je die Souveränität der Einzelstaaten oder die Hoheit der EG als Closed Shop der Reichen. Also der Naturzustand der Nationen. Der Alte aus Königsberg hätte das verstanden — von Fortschritt hätte er nicht gesprochen. Christian Semler, Helsinki