Eine Absurdität wird vorgeführt

Die Sammlung Domröse in Berlin: Ostdeutsche Fotografie 1945-1989  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Der Martin-Gropius-Bau, dieser phantastische klassizistische Klotz, noch vor drei Jahren am Mauerstreifen und nicht ganz im Verbund des Westberliner „Kulturforums“ gelegen, steht jetzt um so strahlender mitten in Berlin. Eins der schönsten Häuser der Stadt, durch große Ausstellungen geadelt: Zeitgeist; Berlin, Berlin; Bismarck; Chillida; Jüdische Lebenswelten.

Fremdling im eigenen Haus

Aber das sind alles nicht die Früchte der Berlinischen Galerie, die wenige Jahre nach ihrer Gründung 1981 in den spät wieder aufgebauten Gropius-Bau einziehen durfte — halb durfte, halb nicht, denn für die wichtigen Großausstellungen hatte die Berlinische Galerie ihre Sammlungen abzuräumen. Wenn die großen Attraktionen vorbei waren, lag das Haus wie verwaist da. Die Bestände, nur zu kleinen Teilen mit freien Mitteln, zum großen Teil über Fördermittel des Senats zusammengekauft, zogen weder Berliner noch Besucher in das Haus. Offensichtlich gibt es ein kaum wettzumachendes psychologisches Gefälle zwischen dem Status des Hauses (und seiner spektakulären Nutzung) und dem Status der Berlinischen Galerie, die, mit der Situation schwer unzufrieden, längst wieder ausgezogen wäre, wenn sie gekonnt hätte. Jetzt zeigt sie endlich ihre Bestände „Im ganzen Haus“. Wieder zeigen sich die bekannten Schwächen: Während dem überkommenen Expressionismuskitsch eines Trak Wendisch der prächtige Lichthof des Hauses zur Verfügung steht, findet man über wichtige Strömungen Westberliner Kunst der achtziger Jahre so gut wie nichts (tatsächlich besitzt die Berlinische Galerie nicht eine Arbeit von Hermann Pitz, der inzwischen folgerichtig nach Düsseldorf abgewandert ist).

Doch halt, in einem Raum, der ansonsten von der Architektursammlung bespielt wird, findet man eine Arbeit von Raffael Rheinsberg, eine akribisch geordnete Sammlung von Apparaten, Schildern und Kleidungsstücken eines ehemaligen Kontrollpunktes: Einreise, Februar 1990. Und gleich danach beginnt die Ausstellung Nichts ist so einfach wie es scheint — Ostdeutsche Photographie 1945-1989, ein kompaktes Kapitel ostdeutscher Nachkriegs- und DDR-Fotografie, beginnend mit den verwesten und mumifizierten Gestalten, die der Fotograf Richard Peters sen. in den zerbombten Luftschutzkellern Dresdens fand, als diese 1946 geöffnet wurden; endend mit den schon fast makaber hoffnungslosen Portraits, die Gundula Schulze gemacht hat, als die letzten sieben Jahre der Republik angebrochen waren.

Der Kulturbetrieb der DDR selbst muß eine Ahnung davon gehabt haben, als Ulrich Domröse Mitte der achtziger Jahre den Auftrag bekam, die Fotografie der DDR rückwärtig zusammenzutragen; 1987 begann seine tatsächliche Ankaufstätigkeit, ganz im Stillen.

Die DDR dokumentiert „ihre“ Fotografie

Die Staats-„Sammlung Domröse“ ging im Sommer 1990 (vorläufig) in die Bestände der Berlinischen Galerie über und wurde mit zusätzlichen Mitteln auf den aktuellen Stand gebracht. Domröse, dort inzwischen Kurator, zeigt sich klug, daß er nur einen kleinen Teil seiner gesammelten Arbeiten zeigt, den Zeitraum scharf begrenzt und mit fünfzehn „Autoren“ (wie man jetzt sagt) die wichtigsten Positionen der DDR-Fotografie vorführt und vergleichbar macht.

So ist in der Fotografie der fünfziger Jahre das penible Formbewußtsein — Rest der Vorkriegsdidaktik einer „guten Fotografie“ — ähnlich spürbar wie in der gleichzeitigen westdeutschen Fotografie. Die kargen, stilisierten Landschaftsstilleben — Schnee, Gestein, Gräser — von Fritz Kühn hätten durchaus im Zusammenhang der „Subjektiven Fotografie“ Otto Steinerts Bestand gehabt. Eindringlicher sind die Straßenbilder Arno Fischers (Jahrgang 1927), der viel später als Lehrer in Leipzig etliche wichtige Fotograf(inn)en der DDR prägen sollte: Vor einem dunklen Schuttberg begegnen sich zwei Figuren, ein durch den fotografischen Moment im schnellen Schritt gestoppter Mann, der (diagonal zum Querformat des Fotos) eine weiße Rolle trägt, und ein Junge, der mit einem großen schwarzen Reifen in tänzerischem Spiel begriffen ist. Beide Figuren verschwinden fast in der dunklen Körnigkeit des Bildes, der Mann — als Symbol des „geschäftigen“ Fortbestands nach der andauernden Katastrophe — mehr als der Junge, der etwas mehr Kontur zeigt. Aufgenommen in Ost-Berlin, 1957.

Fischers Sicht auf das damals ja noch fast frei zugängliche West-Berlin ist dagegen deutlich polemisch getönt: ein bemützter Junge, vor einem Schaufenster mit Militaria stehend, wirft einen begeisterten (und Zustimmung heischenden) Blick zurück auf eine Figur, die mit dem Rücken zum Betrachter steht, und die man unwillkürlich für den Vater des Jungen hält. Wie zufällig schleicht links im Bild ein Boxerhund vorbei. Eine Freiluft-Veranstaltung „Berlin bleibt frei“ wird über die Kühlerhaube einer schwarzen Mercedes- Limousine wahr- und aufgenommen.

Ein innerlicher Kompromiß

Dagegen spielt eine neue Waren- und Konsumwelt in der Fotografie der DDR, wie Domröse sie vorführt, bis in die siebziger Jahre praktisch keine Rolle: die quadratischen Bilder Uwe Steinbergs aus der Berliner Zentralmarkthalle zeigen in konzentrierten Genre-Szenen einen funktionierenden Alltag in bedrückender Schäbigkeit — ohne weiteres könnten die Bilder aus den Dreißigern stammen, sind aber auf 1963 datiert (der Fotograf stirbt genau zwanzig Jahre später bei einem Unfall in Budapest). In den braven Gassenbildern und journalistischen Portraits von Helga Paris (Jahrgang 1938) sieht man den Kompromiß zwischen der heldischen Ideologie und der Versuchung, den sichtbar werdenden Schwächen eines regredierenden Systems auf die Schliche zu kommen; aber das Sentiment einer Fotografie des beschaulichen Verfalls, das im 19.Jahrhundert aus der romantischen Zeichnung übernommen wurde, dominiert. Ähnliche Spuren eines nicht erzwungenen, sondern gewissermaßen innerlichen Kompromisses, zeigen sich in den Reportagebildern von Sibylle Bergemann. Erst mit ihrer vergleichenden Serie „P2“ von 1981, die Wohnstuben eines Massenquartiers in ihrer austauschbaren, industriellen Kleinbürgerlichkeit vorführt, wird eine gewisse Häme spürbar. Daß es nämlich möglich ist, mit den „objektiven“ Mitteln der Fotografie die „sozialistischen Errungenschaften“ in ihrer Absurdität vorzuführen. Wenige Jahre zuvor hatte es in der westdeutschen Fotografie einen ähnlichen Ansatz gegeben: die Bilder von Familienfeiern und öffentlichen Festen, die Hans Martin Küsters machte, oder die vergleichenden Portraits zu Haus/am Arbeitsplatz von Michael Schmidt (West-Berlin) hatten eine ähnliche Wirkung, wenn sie auch politisch anders ausgerichtet waren: nämlich die Grenzen des Individuellen in einer gesättigten Konsumgesellschaft belegen zu wollen.

Abgeschnitten von den Quellen der amerikanischen dokumentarischen und konzeptuellen Fotografie, gab es vergleichbare Arbeiten in der DDR erst sehr spät.

Artifizielles Staunen

Allerdings sind die mit „amerikanischer“ Bildgeometrie konstruierten Stadtbilder von Ulrich Wüst (aus Magdeburg, Rostock, Berlin, Bernau...) mehr als nur gültige Dokumente einer DDR, die neben ihre verfaulende Städte Instant-Zweitstädte setzte, zur vorübergehenden Zufriedenheit ihrer ohnehin gegängelten Bewohner. Wüst, der studierte Architekt, hat sich vielleicht als erster vom allgegenwärtigen Kompensationsmittel, der Melancholie, freigemacht.

Während der Besucher im Rundgang gegen den Urzeigersinn die Ausstellung in ihrer chronologischen Ordnung begangen hat, findet er sich nun im größten Raum der Ausstellung, der vom Lichthof her zu betreten ist und somit auch ihren Anfang darstellen könnte: Im Schachbrettmuster arrangiert, hängen hier die Portraits, die Thomas Florschuetz am Prenzlauer Berg gemacht hat, milchige Studien von eigenartigem Anschnitt, als sei die Kamera am Hals des Gegenübers hochgestiegen, um in artifiziellem Staunen kurz unterhalb des Kinns einzurasten. In der Mitte des Tableaus plaziert, die Schlafzimmeraugen unter der berühmten Nickelbrille, Sascha Anderson. Nichts ist so einfach wie es scheint.

Warum Domröse sich vollkommen auf Schwarzweißfotografie beschränkt hat, ist nicht so recht nachvollziehbar: So gibt es zum Beispiel von Gundula Schulze ein direktes, schockierendes Farbfoto einer Geburt — es wäre wunderlich, wenn Domröse es nicht besäße. Die Präsentation des Vorhandenen ist jedenfalls sorgfältig: Uwe Steinbergs düsteren Fotografien (die ein wenig an Bill Brandt erinnern) sind als Ausnahme schwarz gerahmt, und der Florschuetz-Block der Portraits zeigt die kruden Vergrößerungen rahmenlos zwischen Glas, handwerklich und leicht.

Der Katalog, den man sich doppelt so dick gewünscht hätte, zeigt eine plausible, aber vielleicht zu rechnerische Auswahl der Fotografien (jedem zwei Doppelseiten). In seinem Text versucht Domröse den Stellenwert der Fotografie in der DDR, die Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten zu klären. Zusammengefaßt kann man wohl sagen, daß Fotograf(inn)en in der DDR, mit Ausnahme der Zeitungen und Illustrierten, so gut wie keine Öffentlichkeit hatten, weder in Galerien, Museen noch über Bücher. Was nicht klar wird, ist, was die einzelnen Initiativen und Gruppen wirklich voneinander schied, und inwieweit die staatliche Gängelung des Kulturbetriebs die Biographien der Betroffenen bestimmt hat — oder nicht. Man hätte dem tüchtigen Sammler, der die konzeptionelle Kontrolle über sein Material mit dieser Ausstellung unter Beweis stellt, eine aufmerksame Katalogredaktion gegönnt; die Voraussetzung dazu ist natürlich, daß man die Redaktion als Textautor nicht selbst besorgt. Aber auch Jörn Merkert, Leiter der glücklosen Institution im prächtigen Haus, wäre gut beraten, gelegentlich jemand einen Blick auf seine Texte werfen zu lassen. Sein Vorwort beginnt mit der Stilblüte: „Mit dem Herbst 1989 erweiterte sich das Sammelspektrum für die Berlinische Galerie praktisch über Nacht.“

Nichts ist so einfach wie es scheint. Ostdeutsche Photographie 1945 - 1989; als Teil der Ausstellung: Im ganzen Haus. Berlinische Galerie im Martin-Gropius-Bau, Berlin. Bis zum 19.Juli '92. Eintritt 8 bzw. 4 Mark. Katalog 124 Seiten, Duoton-Druck, (dort) 28 Mark.