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Tim bei den Faschisten

Neue Veröffentlichungen lassen Zweifel an der Unbescholtenheit des berühmten Reporters und seines Hundes Struppi aufkommen. War der Comic-Zeichner Hergé ein Rassist?  ■ Von Claus Christian Malzahn

Zu einer Zeit, als das Reisen noch beschwerlich war, besuchte Tim Chicago und Moskau, Hongkong und Sydney, die Antarktis und den südamerikanischen Urwald. Er durchstreifte den Busch im Kongo, bestieg das Dach der Welt in Tibet, legte Sklavenhändlern in Mekka das Handwerk und ließ eine Geldfälscherbande in Schottland auffliegen. Weltruhm erlangte er im Jahre 1954: Damals flog er auf den Mond; vierzehn Jahre bevor Neil Armstrong dort die amerikanische Flagge hißte. Der kleine Belgier mit der rotblonden Haartolle ist zweifellos der berühmteste Reporter aller Zeiten, seine Abenteuer wurden in 47 Sprachen übersetzt und weltweit über 130 Millionen mal verkauft. Noch heute geht alle 17 Sekunden irgendwo ein „Tim und Struppi“-Album über den Ladentisch. Doch der gute Ruf des Kosmopoliten ist gefährdet. In Belgien und Frankreich, wo sich „Les Aventures de Tintin“ in jedem Kinderzimmer finden lassen, werden schwere Vorwürfe gegen die bedeutendste europäische Comic- Figur erhoben: Tim, ein faschistischer Agent, Struppi, ein getarnter Polizeihund?

Ein einziger Satz reichte aus, um die belgische Nation in Angst und Schrecken und die rund um den Erdball aktiven „Tim und Struppi“-Fanclubs in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen: Tintin, c'est moi! Der Mann, der ihn aussprach und jetzt in seinen Memoiren verbreiten will, ist in Belgien ausgesprochen unbeliebt: Léon Degrelle, Kollaborateur und Faschist, SS-General und Gründer der nationalsozialistischen Rex-Bewegung.

Degrelle ist gebürtiger Belgier und lebt seit 1945 im spanischen Exil, weil er nach dem Krieg in seiner Heimat zum Tode verurteilt worden war. Bis heute weigert sich die spanische Regierung, Degrelle auszuliefern. In seinen jüngst veröffentlichten Memoiren behauptet der Rechtsextremist, ein guter Freund von Hergé — dem Schöpfer von Tim und Struppi — gewesen zu sein. Tatsächlich haben sich Hergé und Degrelle gekannt, sie lebten in den zwanziger und dreißiger Jahren beide in Brüssel. Mit der Behauptung, Hergé habe mit der rexistischen Partei sympathisiert, löste Degrelle aber eine Kulturkrise aus. „Panik bei den Tintinophilen!“, hieß es dazu vor kurzem in einer Ausgabe der französischen Illustrierten Le Nouvel Observateur. Damit untertreibt das Blatt. Denn Hergé ist mehr als der Stammvater des europäischen Comics. Die Frage, wie sehr er in die Machenschaften der Rexisten verstrickt war und ob er mit den deutschen Besatzern kollaborierte, berührt zudem das historische Selbstbild der belgischen Nation. „Mein einziger internationaler Rivale ist Tim“, hat der französische Résistance-Kämpfer und spätere Staatschef Charles de Gaulle einmal anerkennend gesagt — kaum auszudenken, was geschähe, wenn anstelle des fröhlichen Lächelns des kleinen Reporters plötzlich die furchtbare Fratze des Faschismus sichtbar würde.

Betrachtet man die Urfassungen der ersten „Tim und Struppi“- Bände, so wird Hergé von dem Vorwurf, ein Rechter zu sein, nicht gerade entlastet.

Ihr erstes Abenteuer erleben „Tintin und Milou“ im Land der Sowjets. Hergé veröffentlichte das Werk im Jahre 1925, einer Zeit also, in der die politische Bühne im wesentlichen von Kommunisten und Antikommunisten beherrscht wurde.

Tim, der Antikommunist und Prokolonialist

Hergé — bürgerlich Georges Remi — war in jungen Jahren ein Antikommunist übelster Sorte.

Die Sowjets sehen in diesem allerersten Abenteuer aus wie halbe Tiere, sie lügen und betrügen, morden und sengen und trachten Tim natürlich nach dem Leben. Tim kämpft auf seiten der Weißgardisten gegen das Sowjetregime und kehrt, nachdem er ein paar Kommunisten zur Strecke gebracht hat, nach Brüssel zurück. Das Album „Tim und Struppi im Land der Sowjets“ war in Belgien ein durchschlagender Erfolg. Nachdem dieses Abenteuer auf dem Papier bestanden war, versammelte sich im Sommer 1930 eine riesige Menschenmenge am Gare du Nord in Brüssel, um den heimkehrenden Sowjetgegner zu feiern. Hergés Verlag hatte das Spektakel organisiert und einen Jugendlichen engagiert, der der Comic-Figur Tim sehr ähnlich sah. Diese Vermischung von Fiktion und Realität erwies sich als erfolgsträchtig und wurde auch beim nächsten Band beibehalten.

Sein zweites Abenteuer erlebte Tim im Kongo, genauer gesagt: Belgisch-Kongo, denn der afrikanische Staat war damals eine belgische Kolonie. Auch dieser Band strotzt nur so von Vorurteilen; die Schwarzen („Cocos“) sind faul und dumm, Tim bringt ihnen die Segnungen der Zivilisation.

Hergé hat zu Beginn seiner Karriere nicht recherchiert, als er die Storys für seine Alben entwickelte, sondern sich ausschließlich auf stereotype Vorstellungen verlassen. Das gilt auch für den Band „Tim in Amerika“, der die Vereinigten Staaten als Eldorado des Verbrechens zeigt. Hergé war also Antikommunist, Antiamerikaner und Prokolonialist. Die Rex-Bewegung, die 1932 aus dem Zeitungsimperium des belgischen Verlegers Christus Rex hervorging, vertrat ähnliche Auffassungen.

Hergés fragwürdige Arbeitsweise änderte sich erst im Jahre 1934, als er den chinesischen Studenten Chang Chong-Jen kennenlernte. Der damals schon berühmte Zeichner erzählte dem Chinesen, daß er das nächste Tintin-Abenteuer in China spielen lassen wolle. Chong-Jen überzeugte Hergé, daß man eine gute Geschichte mit dokumentarischem Material absichern müsse; der so entstandene Band „Der blaue Lotus“ geriet zu einer ernstzunehmenden Parabel auf die komplizierten politischen Verhältnisse in Südostasien. Sein Erstlingswerk „Tintin au pays des Soviets“ war Hergé inzwischen so peinlich, daß er den Propaganda- Comic aus dem Verkehr ziehen ließ. Dieser Band wurde als einziges „Tim und Struppi“-Abenteuer niemals koloriert. Nachdem Raubdrucke in Sammlerkreisen aber zu immer astronomischeren Summen gehandelt wurden, ließ Hergé sein reaktionäres Erstlingswerk in den siebziger Jahren als Werkausgabe neu verlegen.

War Hergé ein Antisemit?

Le Nouvel Observateur hat nun zwei bisher unveröffentlichte Dokumente vorgelegt, die Degrelles Behauptungen entkräften sollen. Zum einen liegt der Illustrierten ein Brief des Meisters aus dem Jahre 1932 vor, in dem Hergé Degrelle verbietet, seine Zeichnungen als Vorlagen für rexistische Wahlplakate zu benutzen. Degrelle hatte Hergé zuvor darum gebeten. Zum zweiten verfügt das Blatt über einen bisher unveröffentlichten Comic-Strip, der den oft gegen Hergé erhobenen Antisemitismus-Vorwurf widerlegen soll. Die Bilderreihe zeigt Tim im Gespräch mit einem Professor namens Finkelnstein, der alle antijüdischen Stereotype aufweist: lange Nase, dicke Lippen, zotteliger Bart und eine Kippa auf dem Kopf. In dem Moment, als Tim dieser Figur gegenübersteht, nimmt er selbst „jüdische“ Züge an; seine Nase ist plötzlich dicker. „Würde ein Antisemit seinem Helden jemals die Züge eines militanten Juden verleihen?“ zitiert die Illustrierte den Schriftsteller und Hergé-Experten Benoît Peeters in diesem Zusammenhang. Bewiesen ist damit trotzdem nichts. Hergé hat mehr als einmal die — durch Wilhelm Busch begründete — Tradition antisemitischer Zeichnungen aufgegriffen; beispielsweise in dem 1942 herausgegebenen Band „Der geheimnisvolle Stern“, einer Geschichte über zwei konkurrierende Forschungsexpeditionen, die einen auf der Erde zerschellten Meteoriten untersuchen sollen. Die „gute“ Gruppe wird von Tim angeführt, die „böse“ von einem jüdischen amerikanischen Kapitalisten namens Blumenstein finanziert. Blumenstein ist ein skrupelloser Geschäftsmann, der Tim mit allen Mitteln austricksen will. Nach dem Krieg hat Hergé diesen Comic entschärft, indem er dem unsympathischen Kapitalisten den flämischen Namen Bohlwinkel gab.

Kollaboration mit den deutschen Besatzern

Als die deutschen Truppen im Jahre 1940 Belgien besetzten, flüchtete Hergé zunächst nach Südfrankreich, kehrte aber kurze Zeit später wieder nach Brüssel zurück. Dort arbeitete er bis Kriegsende bei der Zeitung Le Soir, einem Blatt, das unter faschistischer Kontrolle stand. In dieser Zeitung wurde auch „Der geheimnisvolle Stern“ als Serie veröffentlicht. Nach dem Krieg erhoben die Résistance-Kämpfer gegen Hergé den Vorwurf der Kollaboration. Er wurde dreimal von einem Gericht vernommen, mußte sogar eine Nacht im Gefängnis verbringen. Zu einer Verurteilung kam es nicht. Trotzdem tauchte Hergés Konterfei in einer von der Réstistance herausgegebenen Broschüre mit dem Titel „Die Galerie der Verräter“ auf. Der Beliebtheit von Tintin und Milou tat das keinen Abbruch, wenige Jahre später hatte man auch in Belgien das dunkle Kapitel der Kollaboration verdrängt — bis Léon Degrelle mit seiner Äußerung plötzlich den Mythos von Tintin entzauberte.

Sympathien für Hitler oder Mussolini hegte Hergé nicht. In dem Ende der dreißiger Jahre veröffentlichten Band „König Ottokars Zepter“ plant ein Balkanstaat namens Bordurien einen Überfall auf das Nachbarland Syldavien. Tim weiß das natürlich zu verhindern und kämpft gegen die Aggressoren, deren baldurischer Anführer in der Originalausgabe Müsstler heißt — der Name setzt sich aus Hitler und Mussolini zusammen.

Hergé sei kein Held gewesen, schreibt der Nouvel Observateur, aber ein Faschist — das nun auch wieder nicht. Vermutlich hat Degrelle stark übertrieben, als er seine angeblich freundschaftliche Beziehung zu Hergé geschildert hat. Der Vater von Tim und Struppi kann sich nicht mehr wehren, er starb im Jahre 1983. An seiner Statt reiste der Vorsitzende des Internationalen Tim-und-Struppi-Fanclubs, der belgische Schauspieler Stéphane Steemann, in das spanische Malaga, um Degrelle die Leviten zu lesen. Drei Tage und Nächte diskutierten die beiden im Herbst des vergangenen Jahres über Hergé, Tim und die Geschichte der belgischen Nation. „Das Interessante ist doch, zu untersuchen, unter welchen Bedingungen Hergé gearbeitet hat, was ihn beeinflußte“, erklärte Degrelle seinem Besucher.

Diese Fragestellung ist völlig richtig, auch wenn sie vom Falschen kommt. In den politisch unruhigen zwanziger Jahren schickte er Tim in den Kampf gegen den Kommunismus, Ende der Dreißiger zog Tim, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, gegen Militaristen zu Felde. In den vierziger Jahren, als das friedliche Reisen in ferne Länder unmöglich war, schickte Hergé seinen Helden binnen weniger Jahre gleich auf vier verschiedene Kontinente, in den fortschrittsgläubigen Fünfzigern durften Tim und Struppi dann auf den Mond fliegen. Tim war das Kind eines Zeitgeistreisenden, der keinen Trend ausließ. Wäre Hergé noch am Leben, dann führte die nächste Reise in den Regenwald — damit der europäische Reporter Tim den tumben Brasilianern erklären kann, warum man die Urwaldbäume schützen muß.

Die Urfassungen folgender „Tim und Struppi“-Bände sind jetzt beim Carlsen-Verlag/Hamburg erhältlich: „Tim und Struppi im Kongo“, „Tim und Struppi in Amerika“ (29,80DM). Weitere Bände werden folgen. Die Urfassung von „Tim und Struppi im Land der Sowjets“ liegt bei Carlsen als Paperback-Werkausgabe vor (19,80DM).

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