Dauerhafter als deutsche Regierungen

■ Das Generalkonsulat der Schweiz steht seit 1919 im Spreebogen, das Haus ist älter als der Reichtsag

Nun flattert sie wieder — die rote Fahne mit dem weißen Kreuz in der Mitte. Schon manch einer, der auf der Entlastungsstraße im Autostau südlich der Moltkebrücke gestanden hat, wird sich gefragt haben, was sich hinter den Mauern des grauen Gebäudes rechts von der Straße befindet. Hier die Auflösung: Es ist das Schweizerische Generalkonsulat in der Fürst- Bismarck-Straße 4, das einzige Gebäude in dieser Straße und überhaupt das einzige im ehemaligen Alsenviertel nahe dem Reichstag. Es hat die Baupläne der Nazis, die Bomben und die Endkämpfe des Zweiten Weltkrieges überstanden. Merkwürdig deplaziert wirkt das kastenartige Haus mit sechs schlichten angedeuteten Säulen an der Fassade am Rande der Grünflächen im Spreebogen. Hier sollen bald Parlaments- und Regierungsgebäude errichtet werden.

Die neue Fahne weht seit dem 3. Oktober 1990 auf dem Dach, dem Tag der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, an dem auch die alliierten Vorbehaltsrechte in Berlin weggefallen sind.

Über 70 Jahre Schweiz an dieser Stelle

Seit 1919 ist die Schweizerische Eidgenossenschaft Eigentümerin des 1870/71 gebauten Hauses. Als 1870 die Baugenehmigung erteilt wurde, stand am damaligen Königsplatz noch nicht einmal der Reichstag, mit dessen Bau erst 1884 begonnen wurde. Der Geheime Obermedizinalrat Friedrich Theodor Ferichs baute sein Haus am Rande des Tiergartens, ein schöner Blick ins Grüne. Nachdem 1907 ein Dr. Max Esser Eigentümer geworden war, erwarb 1910 der Kunsthändler und Rennstallbesitzer Dr. Erich Kunheim das Haus, ließ es umbauen und das Nebengebäude als Stall für seine Pferde und Personalunterkunft errichten.

Wer hinter dem großen zweiflügeligen Eichenholztor den Treppenaufgang des Hauses vermutet, der liegt falsch. Es ist die Durchfahrt für die Kutschen. Zeitgemäß bugsiert heute der Generalkonsul Hedwin Trinkler seinen PKW übers Pflaster zur Garage im Hinterhaus. Kunheim muß mit seinen Geschäften viel Geld verdient haben. Sein Umbau verwandelte das Haus in ein Schmuckstück. Marmorwände, reich verzierte Stuckdecken, Spiegel, Reliefs, edle Hölzer, ein Fahrstuhl im klassizistischen Stil, Möbel in Sonderanfertigung, passend zum sonst verwendeten Holz. Die Räume im Hochparterre vermitteln noch heute die Pracht des Kunstmäzens, der hier zwischen 1910 und 1919 ein Zentrum der Berliner bürgerlichen Gesellschaft geschaffen hatte.

Inzwischen war das Stadtviertel nördlich des Königsplatzes, der in der Weimarer Republik den Namen Platz der Republik bekam, vollständig bebaut worden. Zahlreiche Gesandtschaften (= Botschaften) ließen sich hier nieder. 1936 waren in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Schweizern die Vertretungen von Finnland, Norwegen, Dänemark (Alsenstraße 1, 2 und 4) und Portugal. Schräg gegenüber lag das Verwaltungsgebäude des Reichsministeriums des Inneren.

Welthauptstadt »Germania«

Den Nazis waren die Gebäude im Alsenviertel im Wege. Sie planten an dieser Stelle die gigantomanische »Halle des Volkes«. Direkt über die Spree gebaut, sollte sie 315 Meter lang und 290 Meter hoch werden: Platz für 150.000 bis 180.000 Menschen. 1938 begannen die Vorarbeiten mit dem Abriß der ersten Häuser im Spreebogen. Die Gesandtschaften sollten Ersatzgebäude nördlich des Landwehrkanals am Rande des Tiergartens bekommen. Auch die schweizerische Gesandtschaft stand auf der Abbruchliste. Die Kisten zum Umzug waren schon gepackt, als im November 1943 eine Bombe auf das neue Quartier in der Liechtensteinallee 4/5 (neben dem Neubau für Norwegen) fiel. Aus dem Umzug wurde nichts, worüber der ehemalige Gesandte Hans Fröhlicher überhaupt nicht böse war. So harrten die schweizerischen Diplomaten bis zur Eroberung der Stadt durch die sowjetischen Truppen am 29./30. April 1945 aus, die Lichtschächte mit Sand gefüllt, um Brandbomben keine Chance zu geben. Der Krieg rollte über das Gebäude. Die letzten chaotischen Tage der Nazi-Diktatur sind in einem Erlebnisbericht von Paul David (Am Königsplatz, Zürich 1948) beschrieben. Die Halbruine, durch 17 Artillerietreffer und Brandbomben beschädigt, geriet mitten in die erbitterten Kämpfe zwischen deutschen Einheiten und sowjetischen Soldaten, die den Reichstag unbedingt bis zum 1. Mai 1945 erobern wollten. Die auf dem zerstörten Dach ausgebreitete Fahne der Eidgenossen sollte das Haus vor der Bombardierung bewahren. Das kleine Fenster der Pförtnerloge in Fußhöhe am Hauptportal, von dem aus die Belagerten alles beobachteten, ist heute noch in Gebrauch. Die Botschaft wurde schließlich von sowjetischen Truppen besetzt. Möbel, Einrichtungsgegenstände, Wäsche und Uhren kamen abhanden. Zwei Tage lang war das Haus sowjetisches Heerlager. Am Ende wurde das Botschaftspersonal nach Moskau transportiert, von wo es zwei Monate später über die Türkei in die Schweiz zurückkehren konnte.

Die Nachkriegszeit

Im August 1945 kamen die Schweizer in ihre Ruine zurück. Zuerst arbeitete dort die sogenannte Heimschaftsdelegation, die sich um die Rückkehr der schweizerischen Bürger bemühte, ab 1949 war es dann die »Schweizerische Delegation« als nicht akkreditierte diplomatische Vertretung und schließlich ab 1973 das schweizerische Generalkonsulat mit dem Amtsbezirk West-Berlin, weil in Ost-Berlin für die DDR die erste schweizerische Botschaft eingerichtet worden war.

Nun weht der Wind der Geschichte den Eidgenossen schon wieder heftig ins Gesicht. Neben dem Reichstag sollen Parlaments- und Regierungsgebäude entstehen. Da ist das schweizerische Gebäude vielleicht mal wieder im Weg. Generalkonsul Trinkler ist noch jedoch gelassen. Niemand hat bisher die Diplomaten gefragt, ob sie bereit sind, den Platz zu räumen. Und wenn es ein gemischtes lebendiges Viertel mit Verwaltung, Wohnen und Gewerbe gibt, dann wird das Gebäude sicherlich die eidgenössische Botschaft im neuen Deutschland. Wird es dagegen ein reines Regierungs- und Parlamentsviertel, könnte es ungemütlich werden wegen Behinderungen bei offiziellen Besuchen.

Die Schweizer haben an dieser Stelle der Stadt allerdings Beharrungsvermögen bewiesen. So wird man davon ausgehen können, daß die 1990 neu gehißte rotweiße Fahne noch lange über dem Spreebogen zu sehen sein wird. Jürgen Karwelat