„Wir leben wie in einem großen KZ“

An der kroatisch-bosnischen Grenze hat das Leben längst jeden Wert verloren — weder die 400 Ertrunkenen noch die 20, die bei einem Raketenangriff ums Leben kamen, werden betrauert  ■ Aus Slavonski Brod R.Hofwiler

Schon Kilometer vor der Stadt wissen es alle: Vierhundert Menschen sind am Sonntag in der Save ertrunken. Es waren verzweifelte Flüchtlinge auf einem Floß. Sie scheiterten bei dem Versuch, den kroatisch-bosnischen Grenzstrom Save zu überqueren. Hinter ihnen die serbischen Tuppen, vor ihnen ein Strom, so breit wie die Donau — derzeit mit Hochwasser, ohne Brückenübergänge und Fährverkehr.

Da der Krieg an der kroatisch- bosnischen Grenze bereits seit Monaten tobt, sind auf einer Länge von fast 300 Kilometern längst alle Brücken gesprengt. Einzige Ausnahme: Die Stahlbetonbrücke zwischen dem kroatischen Slavonski- und dem bosnischen Bosanski-Brod. Sie ist noch in der Hand kroatischer Verbände.

Doch die Front rückt näher und näher. So nahe, daß sich serbische Verbände am Mittwoch abend die Provokation erlauben, eine Rakete abzufeuern. Das Geschoß trifft mitten in ein Flüchtlingscamp von Slavonski Brod — ein Sportstadion, in dem 3.000 Menschen Zuflucht gesucht haben. Erste Schreckensbilanz: Mindestens zwölf Tote und sechzig Schwerverletzte.

Zur gleichen Zeit, als die serbischen Freischärler Verwüstung und Tod im Sportstadion anrichten, befinden sich internationale Diplomaten und Journalisten in der Stadt. Sie wollen sich vor Ort ein Bild über die katastrophale Lage der Flüchtlinge machen. Alle werden ungewollt Augenzeugen dieses schmutzigen Krieges.

Stunden nach dem Anschlag auf das provisorische Flüchtlingscamp gleicht Slavonski Brod noch immer einem Wespennest. Über die einzige Save-Brücke drängen die Flüchtlinge aus Bosnien. Menschen, die außer Plastiktüten nichts bei sich haben, eilen denjenigen entgegen, die gerade die Stadt verlassen. Die einen wissen noch nichts von dem Angriff und glauben endlich in Sicherheit zu sein, die anderen drängen aus der Stadt, um weiteren Übergriffen zu entgehen.

Zahlen verdeutlichen nur begrenzt, was sich an der Save abspielt: Offiziell lebten in Slavonski Brod Anfang der Woche 80.000 Menschen, in Bosanski Brod registrierte man 40.000. Stündlich erreichen etwa 1.000 Menschen aus allen Teilen Bosniens die Grenze der bosnischen Stadt und überqueren die Brücke nach Kroatien. In ganz Bosnien sollen nach Angaben aus Sarajevo 600.000 Menschen auf gepackten Plastiktüten sitzen, um bei der erstbesten Gelegenheit aufzubrechen.

„Wir leben alle wie in einem großen KZ“, sagt Joze Metar. Dem Ingenieur kommt das Wort KZ leicht über die Lippen — und nicht nur ihm. Wen immer man in Slavonski Brod auf seine Lage anspricht, niemand bettelt, wie noch vor Wochen, um Nahrungsmittel, um eine sichere Adresse oder Einladung nach Deutschland. Die Menschen haben offensichtlich resigniert. „Mein Leben ist mir schon genommen, zwei meiner Kinder und drei meiner Enkelkinder sind tot“, sagt eine alte Frau. Sie wolle nicht mehr leben, sie wolle nur eins: Gerechtigkeit. Doch die könne nur kommen, wenn Europa Bosnien von der serbischen Aggression befreit.

An Lebensmitteln und Medikamenten fehlt es den Hilfsorganisationen in Bosanski Brod nicht. Durch die österreichische TV-Hilfe „Nachbar in Not“ kommen täglich vollbeladene LKWs in die Grenzstadt. Über Suppenküchen bekommt jeder Flüchtling zumindest eine warme Mahlzeit am Tag. Die Nächte sind mild, und mit einer einfachen Decke läßt es sich in Parks, Sportstadien und Gartenanlagen übernachten. Doch tagsüber liest man in den Gesichtern der Menschen Hilflosigkeit und Verlassenheit. Wie sollen sie den Winter überleben? Und wo? Die Hoffnung, in ihre Heimat zurückkehren zu können, hegt keiner mehr. Wer zurückkehrt, der geht als Soldat.

Davon zeugt die lange Schlange, die sich jeden Tag im Rekrutierungszentrum bildet. Flüchtlinge, die gerade dem Grauen des Krieges entkamen, melden sich erneut zum „Befreiungskampf“. Selbst Frauen wollen in die kroatischen Kampfverbände, die eine Gegenoffensive gegen die serbischen Freischärler planen. Wie unter Hypnose können sie dem Krieg nicht den Rücken kehren. Auch Sonja Arbutina, eine 19jährige Krankenschwester, meldet sich zum Kampf: „Ich nehme die Waffe in die Hand und übe Rache.“ Mehr weiß sie nicht zu sagen.

In Slavonski Brod herrscht Krieg, auch in den Köpfen der Flüchtlinge. Wer hier strandet, steht unter Schock und kann sich ein Leben abseits des Krieges nicht mehr vorstellen. Kaum jemand, der erzählt, er sei froh, in Kroatien Zuflucht gefunden zu haben. Kaum einer, der auf ein normales Leben hofft. Die Flüchtlinge reden nur von Rache, Vergeltung und Haß. Europa ist weit entfernt und ein Menschenleben wenig wert.

Auch die 400 Toten vom vergangenen Sonntag zählen nichts in diesem Krieg, der bereits 30.000 bis 50.000 Opfer forderte.