Der Fluch des Bremer Stils

■ Die Ära Richter im Bremer Theater ist zu Ende: ein Blick zurück, mal ohne Zorn

Seinerzeit umjubelt: Schillers „Don Carlos“, inszeniert von Werner Schröter (Abb.: Birgit Walter als Eboli). Die Premiere war am 16.1.88

Sieben Jahre, von 1985 bis 1992 währte die Ära Tobias Richters als Generalintendant des Bremer Theaters. Ein Zeitvoll Zank und Chaos, aber auch, dahinter verschwunden, eine versuchte Revolution gegen den „Bremer Stil“.

Die Geburt des „Bremer Stils“ fiel in die Ära Hübner (1962 bis 1973), den 68er Aufbruch am Theater. Die jungen Regisseure Zadek, Stein, Grüber, Fassbinder, die ihn entwickelten, trugen ihn von hier in die ganze Republik, wo er das Theater prägt bis heute. Wilhelm Hermann, tapferer Widersacher gegen die mitentstehende „Hübner-Presse“, beschreibt den Bremer Stil 1973 im Weser-Kurier als „etwas Militantes, Missionarisches, das sich selbst nicht genug war, sondern zur Selbstrechtfertigung ein Feindbild brauchte, nämlich das konventionelle Stadttheater, „als „Aufstand der Nach- und Halbschöpferischen“, der Regisseure, gegen die Dramatiker, Komponisten und Librettisten, als ein Regietheater, mit dem Regisseur als „Primadonna und Schulmeister“.

Zum „Bremer Stil“ gehörte der Aufstand gegen die vorgesetzte Autorität. Regisseur Stein kämpfte gegen „Opa Hübner“ den Heldenkampf, Hübner gegen das calvinistische Urgestein, den Kultursenator Moritz Thape, 1980 Oberspielleiter Steckel gegen Senator Franke und Intendant Wüstenhöfer, 1986 Günter Krämer gegen Senator Franke („Arschloch“) und Intendant Richter. Jeder Rebell vom Schauspiel forderte Autonomie gegenüber dem Intendanten (d.h. dessen Abschaffung) und nahm zur Strafe fürs Unterliegen das mitkämpfende Ensemble mit hinfort an einen andern Ort, dreimal tabula rasa in Bremen.

Aus der Ära Wüstenhöfer (1976 bis 1985), in der die SPD überlegte, das Theater überhaupt wegzusparen, hinterblieb 1985, o Wunder, ein neues kleines Schauspielhaus — und der Oberspielleiter Günter Krämer, der nach zwei theaterlosen Jahren seit 1983 ein junges Ensemble aufgebaut hatte, das die Stadt zu lieben und die Kritik zu respektieren begann. Unter

hierhin bitte

das Theaterfoto

mit der Frau, die

man durch ein Gitter

hindurch sieht

Tobias Richter konnte es also richtig losgehen.

Das tat es auch. Nur anders als gedacht. Der neue Intendant und der Oberspielleiter konnten sich sofort nicht riechen; Richter suchte sich 1989 einen Schauspielchef seiner Wahl, und es endete, außer in Krach und Stunk,

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den blonden Dicklichen

Tobias Richter 1985, ganz am Anfang

mit einem Sprechtheater, das von der überregionalen Kritik allenfalls mitleidig behandelt wurde. Die Zuschauer hatten längst mit den Füßen ein sehr viel radikalereres Votum abgegeben.

Seit den Richter-Krämer-Kämpfen geht die Deutung um, der jüngste Intendant der Republik ertrage nur Unfähigkeit um sich herum. Aber immerhin sei erwähnt, daß die Ära Richter vom Tanz- und Musiktheater aus ganz anders aussieht. Und: der Umbau. Tobias Richter hat die mehr als 30 Mio. erfordernde Sanierung des schrottigen großen Hauses am Goetheplatz gewollt und gedeichselt. Er hat zwischen 1988 und 1991 erfindungsreich externe Spielorte für das Musiktheater aufgetan. Händels Saul in „Unser lieben Frauen“ wird im Gedächtnis der Stadt haften. Im Tanztheater hat er mit dem kurzentschlossenen Abbruch des Experimentes Vielhauer/de Neve stürmische Kritik geerntet, die wenig künstlerische Argumente hatte. Mit Hans Kresnik hat er 1989 eine international anerkannte Truppe geholt, deren brachiales Wut- und-Blut-Theater schlecht zu dem Faible für unterhaltsame Seichtheit passen wollte, das man ihm gern anhängte.

In der Sparte, die Richter selbst leitete, dem Musiktheater, hat er gelungene Spielpläne aus Leichtem, Klassisch-Ohrwurmendem, Randständigem, Neuem vorgestellt, selber inszeniert, auswärtige Könner geholt (wie Jürgen Gosch mit Cosi van tutte, für das allein alle Verantwortlichen in den Himmel kommen). Er hat Nachwuchstalenten von der beachtlichen Dirigentin Catherine Rückwarth bis zum Regisseur Chris Alexander von der Bremer Shakespeare Company Chancen gegeben, die genutzt wurden.

Warum also das Fiasko im Schauspiel? 1986, ein Jahr nach Richters Amtsantritt, drei Jahre, nachdem das Bremer Theater wieder ein Schauspielensemble hatte, hörte die erschreckte Stadt ihren Schauspielchef schon wieder damit drohen, samt Ensemble die Stadt zu verlassen. Der hoch primadonnäse Achtundsechziger Krämer und sein Dienstherr konnten sich nicht riechen.

Vor der Alternative, Krämer oder Richter als Intendanten zu haben, entschied der Senator für letzteren, weil mit dem antikapitalistischen Rebellen Krämer der Umbau nicht zu machen gewesen wäre. Schon der Versuch, erfolgreiche Stücke mit höherem Eintritt aufs Wochenende zu legen war für Krämer eine „privatwirtschaftlich orientierte Strategie der Gewinnmaximierung“ - und dem Auftrag des Staatstheaters zur Erziehung seines Publikums prinzipiell zuwider. 1989 ging Krämer als Intendant nach Köln, das Kernensemble mit ihm.

Tobias Richter konnte sich endlich daran machen, ganz unerziehlich dem Publikum in seinem Wunsch nach Vertrautem zu folgen und gleichzeitig experimentelle Schwerpunkte zu setzen. Auch sollte endlich eine Zusammenarbeit zwischen Tanz, Schauspiel und Oper beginnen.

Das Engagement von Andras Fricsay als Oberspielleiter riß vollends eine Lücke in den allen Brüchen zum Trotz tradierten „Bremer Stil“. Fricsay stellte einen „wilden Haufen“ von Ensemble zusammen, dem er, abhold allen „Berechenbarkeiten“ und dem Regietheater sowieso, phantasievolles Gegenüber sein wollte. Die Zuschauer wurden eher Objekte unterhaltsamer Verführung als kämpferischer Erziehung, Fricsay war kein Linker, der an Geschichte und hoffnungslos schlechte Gesellschaft glaubte. Er ging lieber davon aus, daß „jeder hier alles in sich hat“, Zartes wie Hartes, wie die indische Göttin Kali, zu deren Sohn er sich erklärt hatte. Nur hatte Kali Son noch nie ein großes Haus geleitet.

Tobias Richter hatte Pech. Waren die ersten vier Jahre vom Kampfesgetümmel mit Krämer erfüllt, so die restlichen drei von Schadensbegrenzungen für die Rundumkonflikte, die sein Oberanarch in Gang setzte. Nach der ersten Spielzeit hatte Fricsay zwei eigene Großpremieren („Liebe und Anarchie“ und „Was ihr wollt“) mit viel Geld und Kraft in den Sand der Regieeinfälle gesetzt und dem Hausregisseur Haus die Proben zum Arturo Ui verboten, weil Schauspieler über ihn murrten.

Anfang 1990 versank das Schauspielhaus in einem Spielplanchaos, in dem zeitweilig nur der „Nackte Wahnsinn“ noch standhielt. Gastregisseure legten sich vor der Premieren lieber krank ins Bett, der Rausschmiß des Abonnementspublikums aus Fricsays „Was ihr wollt“-Premiere brachte Abonnenten und den frischgegründeten Verein der Theaterfreunde auf die Palme.

Der Ruf beim notorisch freundlichen Bremer Publikum war ruiniert. Ungeniert lebte es sich danach nicht mehr. Auch nicht, als Fricsay mit „Hamlet“ und Nachtwache“ (Lars Noren), mit zwei vom Wildwuchs der Regieeinfälle befreiten, spannenden Inszenierungen zeigte, was er konnte und was ihn bewegte: ein postmodernes Nietzscheanertum.

Das wird deutlich, wenn man einen Moment Nachtwache von 1991 mit Krämers Möwe von 1987 vergleicht. Bei Krämer waren alle Akteure gleichermaßen verwirrte, gelähmte, bis an die Haarwurzeln entfremdete Opfer einer geschichtlichen Endzeit, wartend auf eine notwendige Erlösung, die ausbleibt. In Fricsays Nachtwache sah man dagegen stundenlang zu, wie ein Mann eine Frau quält, deren Reiz in der Verführungkraft zur (nicht nur, aber auch sexuellen) Gewaltanwendung besteht, und verließ das Theater erquickt von soviel unterhaltsamen Horror. Gewalt und Verführung sind das Faszinierende an der schönen Bestie Mensch. Es wird nicht mehr auf Erlösung von dem Übel gewartet, Himmel und Hölle sind gleichermaßen ins Hier und Jetzt verlegt.

Die Ära Richter war der Versuch, dem Konvention gewordenen „Bremer Stil“, der Attitüde des Aufstands zu entkommen. Beim Schauspiel ging der Verlust des Glaubens an das Höllische der westlichen Gesellschaft leider mit höllischen Zuständen am Theater einher. Schade eigentlich.

Die Verträge von Intendant und Schauspieldirektor sind nicht verlängert worden. Das Ensemble zerstreut sich in alle Winde. Der nachfolgende Generalintendant, Hansgünther Heyme, fängt wieder von vorn an, aber auf der Basis einer soliden Grundausbildung im „Bremer Stil“. Uta Stolle