: Scheibengericht: Tamas Vasary / Svjatoslav Richter / The Tallis Scholars, Peter Philips / Russische Mönche / La petite Bande Sigiswald Kuijken / Ruggiero Ricci, Sinfonia of London, Norman del Mar / Tölzer Knabenchor
TAMÁS VÁSÁRY
Beethoven: Piano Sonates — Pathétique, Moonlight, Les Adieux, Appasionata. Collins Classics 10712 im Vertrieb von Trubach
Auch wenn man mit seiner manchmal etwas herben, ruppigen Interpretation nicht übereinstimmt, man muß sie ihm abkaufen. Támás Vásáry hat sein ungarisches Temperament behalten, als er 1956 nach England emigrierte. Manchmal wirkt sein Spiel hastig, leichtsinnig; dann aber bringt er die erhofften Ritardandi, hält die exakt komponierten Pausen genau ein. Dadurch verliert er sich nie ganz ins Ungestüm, bewahrt Augenmaß. Hörenswert auch für Leute, die schon zehn Aufnahmen der Beethovenschen Highlights im Schrank haben.
SVJATOSLAV RICHTER
Chopin, Weber, Beethoven, Mendelssohn. Live-Mitschnitte 1962-1966. AS 343 im Vertrieb von Fono
Sie sieht aus wie eine Raubpressung, statt eines Beiheftes liegt eine Verkaufsliste der Plattenfirma bei, und daß sie digital remastered ist, mag glauben, wer will. Zunächst rauscht sie wasserfallartig, später sind die Höhen einfach gekappt. Äußerlich betrachtet, spricht einfach nichts für diese Aufnahme. Selten hört man jedoch eine Platte, bei der man diese Unzulänglichkeiten so schnell vergißt. Die überwältigende Musikalität des Pianisten Svjatoslav Richter macht einem peinlich bewußt, wie leicht man sich von den polierten Klängen moderner Digitaltechnik zu oberflächlichem Hören verführen läßt und das Eigentliche vergißt. Zu diesem Eigentlichen gehört, daß der Musiker etwas von sich hergibt und sich nicht hinter aalglatten Interpretationsmustern versteckt. Svjatoslav Richter öffnet sich ganz, hält sich selbst aber nicht für wichtiger als das Werk, sondern respektiert die Komposition als unantastbares Kunstwerk. Sowohl in Chopins unvergleichlicher f-moll-Ballade als auch in Mendelssohns (dessen Name auf dem Cover unverschämt falsch geschrieben ist „17 Variations sérieuses“ kann man sich der Vorstellung hingeben, der Komponist selbst sitze da am Flügel. Beethovens e-moll-Sonate klingt stellenweise eigentümlich verhalten, so als suche der Pianist nach dem richtigen Tonfall und beobachte sich selbst dabei.
THE TALLIS SCHOLARS, PETER PHILIPS
Antoine Brumel: Missa Et ecce terrae motus.
Gimell (CDGIM 026)
Damals war er so berühmt wie Josquin Desprez, heute kennt man den Niederländer Antoine Brumel kaum noch. Die Tallis Scholars, allen voran Peter Philips, sind wieder einmal fündig geworden auf ihrer Suche nach verschollenen Meisterwerken. Ungewöhnlich dicht ist die Klangschicht, fast durchgehend zwölfstimmig. Daß sich diese Kompositionsweise in jener Zeit nicht durchsetzen konnte, lag wahrscheinlich an den Aufführungsmöglichkeiten. Denn so akademisch der strenge Kontrapunkt heute manchmal klingen mag, so war er damals doch praktisches Handwerk. Da wurde nicht für die Schublade komponiert. Dennoch, wenn man hört, welchen Stimmumfang der Komponist zum Beispiel von den Countertenören verlangt, dann zweifelt man, ob diese Messe regelmäßig gesungen werden konnte. Keine Probleme damit haben jedenfalls die Sängerinnen und Sänger der Tallis Scholars, klangstark und präzise verfolgen sie die zum Teil kompliziert ineinander verschlungenen Melodienlinien.
SVJATOSLAV RICHTER
Johann Sebastian Bach: Sonate, Toccata, Fantasie. Capriccio, Duette, Italienisches Konzert. Live-Mitschnitt vom 2.November 1991, Live-Classics (LCL 421), Isoldenstraße 34,
8000 München 40
Mit technischer Brillanz kann man beim 76jährigen Richter nicht rechnen. Damit hat er allerdings nie glänzen wollen. Ungebrochen ist dagegen sein Musikverständnis: wie er sich vorsichtig an die Komposition heranschleicht und sie sich sensibel aneignet. Die Live-Aufnahme von Bachs D-Dur-Sonate, BWV 963, seiner c-moll-Phantasie und dem Italienischen Konzert BWV 971 belegen dies eindrucksvoll; er empfindet Bach eher romantisch stellt den Wohlklang nicht hinter Form und Struktur zurück. „Live Classics“ hat in den letzten Jahren fast alle Soloabende Richters mitgeschnitten und einen davon hier auf CD vorgelegt. Der editorische Aufwand ist beträchtlich und rechnet sich für dieses Kleinstlabel natürlich nicht. Zwei engagierte Frauen widmen sich nebenberuflich der Aufgabe, solch wertvolle Tondokumente herauszugeben. Diese CD ist jedenfalls auch außerhalb der Richter-Fangemeinde zu empfehlen.
RUSSISCHE MÖNCHE, MOSKAUER KATHEDRALCHOR, KNABENSOPRANE DES MAINZER DOMCHORS UND DER HEILIGEN SYNODE MOSKAU; ALEXY GODUNOV, TENOR; ANDREJ BASCHKOV, SOPRAN; MICHAIL NIKIFOROV, BARITON; VIKTOR GUKOV, TENOR; SERGEJ ARCHANGELSKIJ, BASS; VICTOR POPOV, LEITUNG
Missa Rustica — 1000 Jahre russische Liturgie.
Koch Schwann 3-1212-2
Man sollte die beigefügte Übersetzung nicht mitlesen, wenn man den russischen Gesängen lauscht. Die weichen Zischlaute und gedämpften Vokale sind eine musikalische Welt für sich. Der Untertitel „1000 Jahre russische Liturgie“ kann in die Irre führen: es sind in der Mehrzahl Bearbeitungen aus späteren Jahrhunderten. Allerdings wurden die in der Kirche gesungen, deswegen sind diese Aufnahmen durchaus authentisch. Eine gute Mischung aus verschiedenen Stilrichtungen östlichen Kirchengesangs ist da integriert. Es lohnt sich, nach dem ersten Klangrausch einmal genauer hinzuhören und die vielfältigen Formen des Chorgesangs zu verfolgen. Von archaischer, streng parallel geführter Mehrstimmigkeit bis zu romantischem Vollklang reicht das Spektrum, von einfachen Reihenformen bis zu mathematisch vertrackten Ordnungen. Überzeugender als musikwissenschaftliche Entdeckungen sind aber die zum Teil ungewohnten, dennoch sehr eingängigen Chorklänge. Aufnahmetechnisch gibt es leider an manchen Stellen etwas zu mäkeln, zum Teil wurde übersteuert, eine nachträglich verstärkte Solistenpartie ist zwangsläufig mit Rauschen verbunden.
ROYAL PHILHARMONIC ORCHESTRA,
ANDREW LITTON
Rachmaninov: Symphony No. 1, The Isle of the Dead.
Virgin Classics 260 272-231
Bei der Premiere 1895 fiel Rachmaninovs erste Symphonie durch. Dirigent Glasunow war angeblich betrunken, jedenfalls wurde das Stück so schlecht gespielt, daß die Kritiker sie als Programmusik zu den Sieben Plagen Ägyptens bezeichneten. Das kann man von der Einspielung mit dem Royal Philharmonic Orchestra nicht behaupten. Äußerst feinfühlig, dennoch nachdrücklich akzentuiert dirigiert Andrew Litton längere Phrasen, träumt Melodien nach, nimmt andererseits den explodierenden Klangballungen auf der „Toteninsel“ nichts von ihrer Schärfe. Wer sich bei klassischer Musik gerne im bequemen Sessel zurücklehnt, der muß damit rechnen, daß sein Nickerchen massiv sabotiert wird.
LA PETITE BANDE, SIGISWALD KUIJKEN
Haydn: Sinfonien 88, 89, 92 „Oxford“.
Virgin Classics 262 400.
Streng historisch geigt die kleine Bande drei Haydn-Sinfonien unter dem Adlerblick des Dirigenten Sigiswald Kuijken. Der duldet weder falsche Noten noch eigenwillige Interpretation. Der Orchesterklang wirkt rauh, stellenweise metallisch scharf; er vermittelt den Eindruck naturwissenschaftlicher Exaktheit. Perfekter Umgang mit alten Instrumenten, ohne kratzende Nebengeräusche — das sind die Qualitäten der Aufnahme. Ungewohnt wirkt die leichtfüßige Phrasierung, der fröhliche Optimismus im Umgang mit dem großen Komponisten. Spätestens im Adagio der Oxford-Sinfonie aber lassen sich die Musiker von Haydns Charme anstecken.
RUGGIERO RICCI, SINFONIA OF LONDON, NORMAN DEL MAR
Brahms: Violin Concerto. Biddulph Recordings 002.
Berühmt wurde er in den dreißiger Jahren nach seinem Debüt als Elfjähriger in der New Yorker Carnegie Hall, nach seiner Europatournee als Dreizehnjähriger. Seitdem hat der Violinvirtuose Ruggiero Ricci ungefähr 700 — in Worten: siebenhundert — Platten eingespielt. Heute ist er beim breiten Publikum vergessen, aber ab und zu bringt er sich mit einer Neueinspielung in Erinnerung. Zuletzt mit dem Violinkonzert von Brahms. Weil er schon seit jeher ein Faible fürs Extrem hat, so gibt er sich auch diesmal nicht mit nur einer Solokadenz zufrieden, wie das üblich wäre, sondern hängt noch fünfzehn weitere hinten an, die man bei programmierbaren CD-Spielern dann wahlweise einfügen kann. Mancher Geiger wäre sicher froh, wenn er auch nur eine davon spielen könnte. Kunststücke von Joachim, Kreisler, Auer, Heifetz, Milstein und anderen Teufelsgeigern, und natürlich von Ricci selbst. Sie ist mindestes so schwierig wie die übrigen, stellt ebenfalls die Streichakrobatik in den Vordergrund — dafür gibt es ja Kadenzen —, überzieht den Wunsch nach Selbstdarstellung aber nicht zu sehr, behält immer den musikalischen Kontext im Auge, den Brahmsschen Ton. Ricci ist ein Virtuose der alten Schule — er hat Kreisler noch persönlich gekannt —, und es muß schon mit dem Teufel zugehen, wenn jemand mit über siebzig Jahren noch so Geige spielen kann.
TÖLZER KNABENCHOR, LINDE-CONSORT, LEITUNG: HANS-MARTIN LINDE
Venezianische Mehrchörigkeit. EMI 763 44 42
Die Langspielplatte ist längst vergriffen, aber EMI hat in seiner Reihe „Reflexe“ eine angeblich nachbearbeitete CD davon herausgebracht. Das Porträt einer der fruchtbarsten Gegenden der Musikgeschichte: Venedig im 16.Jahrhundert. Die hemmungslose Pracht dieser Chormusik hat danach nur Händel wieder erreicht, allerdings nicht in dieser feingliedrigen, nahezu übersinnlichen Schwerelosigkeit. Andrea, aber vor allem Giovanni Gabrieli stellen den Prunkbauten der Renaissance ein musikalisches Äquivalent zur Seite. Daneben wirken die kammermusikalischen Instrumentalsätze zu Beginn der CD ein wenig kleinkrämerisch, verklemmt. Trotz aufnahmetechnischer Mängel (warum muß z.B. das Cembalo stellenweise lauter sein als der gesamte Chor?) funktioniert dieser „EMI-Reflex“.
SVJATOSLAV RICHTER, OLEG KAGAN
Wolfang Amadeus Mozart: Sonaten für Klavier und Violine (KV 380, 403, 454, 372, 404). Live Classics 123
(Fax 089/367946)
Das ist eine Rarität. Svjatoslav Richter spielt Kammermusik. Kann das gutgehen? Dieser Einzelgänger mit dem ausgeprägten Sinn für die Aura des Individuellen, Unnahbaren. Es geht gut, weil ihn mit Oleg Kagan eine lange Freundschaft verband. Der Dissident Oleg Kagan hatte in der Sowjetunion lange Zeit Reiseverbot, deshalb wurde er im Westen kaum bekannt. Richter tingelte mit ihm durch die russische Provinz und konnte schließlich auch in der Hauptstadt ein Konzert arrangieren. Aus dem Saal des Moskauer Konservatoriums stammt die vorliegende Aufnahme. Ein technisch erstaunlich guter Live-Mitschnitt, dessen dokumentarischer Wert (Kagan starb relativ jung) nur durch die musikalische Qualität übertroffen wird. Ihre Auffassungen von Mozart sind nahezu identisch. Ein weicher, runder Ton, der manchmal eher an Brahms erinnert. Auch die insgesamt melodiebetonte, vorwärtsdrängende Spielweise ist für Puristen nur bedingt mozartianisch. Es ist die perfekte Kommunikation zwischen diesen beiden großen Musikern, die einen auf Anhieb in Bann zieht. — Der junge Kagan verehrte den Pianisten Richter, und erschwerte damit die Probenarbeit. Denn Richter wollte immer aus Kagan herausbekommen, wie man Mozart so überzeugend spielen kann.
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