Etwas ganz anderes

■ Ein deutscher Konstruktivist, ein Maler des Informel im sozialistischen Dresden: Hermann Glöckner (1889-1987) wird vom Westen entdeckt. Der Kunstwissenschaftler Christoph Tannert gibt Auskunft über DDR-Kunst und -Dogmen und berichtet von seinem Besuch bei dem Maler, der ruhmreich vergessen, aber nicht verbittert war: „unheimliche Akribie“. Ein Interview zur laufenden Ausstellung in der Nationalgalerie Berlin („West“)

Kurz bevor die Nazis an die Macht kamen, entschied sich der Maler Hermann Glöckner für die Abstraktion. Sein „Tafelwerk“ liest sich wie ein Kassiber eines etwas zu spät gekommenen, innerlichen deutschen Konstruktivismus: ein Konvolut von Papptafeln, dessen größter Teil in den dreißiger Jahren entstand. Die Tafeln sind auf den Vor- und Rückseiten getönt, beklebt oder mit Zeichnungen versehen: die (Neue) Nationalgalerie in Berlin zeigt jetzt einen Teil dieses Werks, das den Jahrhundertschritt vom Blatt zum Objekt vollzieht, in einem aufwendig installierten Sockelsystem, das erstmals — außerhalb des Glöcknerschen Ateliers — die Arbeiten beidseitig betrachten läßt.

Bei langer Lehrzeit und einigen Schwankungen ist Hermann Glöckner abstrakter Maler und Bildhauer geblieben — und in Deutschland: sowohl in der Nazizeit als auch in der DDR hat er sich seinen Lebensunterhalt durch dekorative Wandarbeiten verdienen müssen. Seine einsame Arbeit in verschiedenen Ateliers bei und in Dresden blieb weitgehend im verborgenen und wuchs doch zu legendärem Ruhm; bei denen, die es wissen wollten. Christoph Tannert, schon als Dresdner Schüler Gast bei verbotenen Ausstellungen, gibt in seiner gewohnt freimütigen Art exakte Auskunft über ein wüstes ideologisches und künstlerisches Terrain, wo eine seltene Pflanze wie Glöckner geachtet, aber im wesentlichen ignoriert worden ist. (Hinweis für West- Leser: „Personalausstellung“ heißt „Einzelausstellung“) uez

taz: Als die DDR am Ende war, war immer von drei großen Malern die Rede: Heisig, Tübke, Mattheuer — von Hermann Glöckner hat niemand gesprochen.

Tannert: Ich glaube, die erste Schwierigkeit bestand darin, daß über den staatlichen Kunsthandel der DDR — mit Kollaboration von bedeutenden oder großen westdeutschen Galerien — ein Bild von DDR- Kunst im Ausland aufgebaut worden war, das dem authentischen Bild von DDR-Kunst in keiner Weise entsprach. Diese Ausstellungen, die gemacht wurden mit dem Institut Ludwig in Oberhausen, der Galerie Brusberg in Berlin und anderen, auch kleineren Galerien über Jahre hinweg, haben immer dazu gedient, die DDR-Repräsentationsabsicht per Kunst zu realisieren. Das war das Problem. Jetzt versuchen Galeristen wie Brusberg auf eine infantile und infame Art und Weise vergessen zu machen, was sie eigentlich getan haben, und stellen sich hin als die, die DDR-Kunst — in Breite — bekannt gemacht hätten, und schlagen sich an die Brust, als ob sie Großes getan hätten.

Glöckner gehörte nicht zu den Repräsentanten der DDR. Für ihn wurde erst 1969 — anläßlich seines achtzigsten Geburtstags — im Kupferstichkabinett in Dresden von Werner Schmidt eine größere Ausstellung eingerichtet; und damit hatte es sich erst einmal. Danach gab es lediglich Ausstellungsbeteiligungen, wo er mal ein, zwei Blätter gezeigt hat, und dann die erste offizielle Vorstellung mit einigen wenigen Blättern am Rande der 8. Kunstausstellung, 1978 in Dresden.

Damit war ja ein Stück Politik verbunden. Der DDR-Realismusbegriff begann in dieser Zeit aufzubrechen, vom Methodenbegriff kam man etwas deutlicher zu den Fragen einiger Stilistiken, und hat gesagt: Vieles, was in der DDR gemacht wird, ist nicht sozialistischer Realismus; wir akzeptieren, daß es diese Traditionsbezüge gibt, wir sprechen von Weite und Vielfalt und einer „Fächerung der Handschriften“. Dieser Prozeß ist ja schon Anfang der siebziger Jahre eingeleitet worden; Weite und Vielfalt ist ja der Begriff, den Honecker geprägt hat, '72 etwa. Das war eine Zeit des laissez-faire und des langsamen Aufbrechens der Positionen.

Hatte das mit der Ostpolitik der Bundesrepublik zu tun?

Sicher. Aber es ist natürlich ein weiter Schritt bis zum Nationalpreis dritter Klasse 1984. Glöckner war 95 Jahre alt, und an dem Jahr 1984 läßt sich verschiedenes ablesen, was so widersprüchlich ist, wie die Kunstpolitik in der DDR überhaupt immer gewesen ist. Den Nationalpreis erster Klasse bekommt Mattheuer, den Nationalpreis zweiter Klasse bekommen Fritz Duda — wirklich so ein Uralt-Künstlerkommunist, und Jo Jastram, Bildhauer mit einem großen Ensemble in Rostock, der das plastische Menschenbild immer wieder in Homogenität und Ebenmaß gebildet hat.

Ist das nicht interessant? Mattheuer gilt 1984 als jemand, der sich zwar kritisch zum System in Beziehung setzt, der aber doch geliebt wird, weil sein kritischer Impetus zeigen kann, wie kritisch die Partei intern mit sich umgeht. 1984 ist ein höchst interessantes Jahr. Es beginnt mit einer Tagung des Zentralvorstandes des Verbandes Bildender Künstler zum Realismusbegriff.

Warst du da?

Ja. Wo letztlich immer noch alle altkommunistischen Positionen runtergebetet werden, es aber auf der anderen Seite reformerische Ansätze gibt. Letztlich wird aber festgehalten an einem Begriff von Kunst, der gänzlich konventionell ist, nämlich: Ein Bild ist nur, was gerahmt ist — eine flattrige Leinwand kann kein Bild sein; Plastik ist nur das, was auf dem Sockel steht; Performances gibt es in der DDR, aber sie sind besser zu kanalisieren als Unterhaltung für Ostseeurlauber am Strand von Warnemünde. Also in einer Zeit, wo längst die verschiedensten Unternehmungen das Aufbrechen des Werkbegriffs, des Materialbegriffs real vorführten — durch bildende Künstler.

Und doch dominierte, auch im experimentellen Bereich, eine an der menschlichen Figur orientierte Kunst. Das Überraschende an Glöckner ist doch, daß er davon — zumindest in einem Teil seines Werks — Abschied genommen hatte. Man wundert sich, daß er damit nicht irgendeine Art von Tradition in der DDR begründet hat.

Also er wurde immer bezeichnet als der deutsche Altmeister des Konstruktivismus; und in Fachkreisen war er solcher, ist aber kaum als solcher wirklich öffentlich gewürdigt worden. Mit der Verleihung des Nationalpreises hat sich die DDR sozusagen spät und verschämt dieser Bürde, ihn nicht gewürdigt zu haben, entledigt. Es war wie so eine Art späte Bringeschuld, die das DDR- Kulturministerium mit einem politischen Schachzug versuchte, in einer Umarmung zu tilgen, denn er war ein 95jähriger alter Mann — und was sollte da beerbt, welche Tradition sollte da erneut herausgestellt werden? Er war schülerlos.

Wie ist das zu erklären?

Die Körpertemperatur eines Neoexpressionisten ist eine ganz andere als die eines Konstruktivisten. Dresden hat diesen schweren, neoexpressionistischen Touch. Und auch Glöckner ist davon nicht ganz frei, er ist ja eigentlich kein Vertreter des Bauhauses, sondern er ist letztendlich ein sensualistischer Konstruktivist, also kommt aus der Dresdner Szene. Und da er so marginal stand und man mit Erfolg die Tradition hat nieder- und heraushalten können, spielte das '84 wirklich keine Rolle mehr.

Was spielte keine Rolle mehr?

Ob man ihn gewürdigt hätte oder nicht.

War Glöckner verbittert?

Nein, ich glaube, daß seine Verbitterung sich längst gelegt hatte, schon während der Nazizeit, nach '33, oder auch nach '45. Er ist ja schon sehr frühzeitig geschnitten worden und ist schon in den dreißiger Jahren an den Rand gedrängt worden — er hat ja vorwiegend sein Geld verdient mit Arbeiten im angewandten Bereich, kleineren Auftragsarbeiten. Insofern denke ich — als ich ihn mal besucht habe, hatte ich das Gefühl, daß dem so sei —, daß er seine Frustration längst ad acta gelegt hatte und eigentlich in dieser Situation bereits lebte und akzeptierte, daß er wohl zu Lebzeiten keine Würdigung erfahren würde.

Im Grunde war er in einer Position, die Kunst als eine Art Selbsterfahrung sieht.

Selbsterfahrung ist nicht der richtige Begriff. Die Authentizität seines Werkes hat sich dadurch hergestellt, daß er nach konstruktiven Überlegungen und seinen Schwüngen, die er ausgeführt hat, ein Stück seines Ichs im Werk gespiegelt sah. Das gehört zu ihm wie morgens aufstehen und ein Stück Brot essen. Die Sicht auf den Rezipienten, auf andere Künstler, auf ein Publikum, die ist ihm aboperiert worden durch die Widrigkeit der Zustände. Er hat ja den Versuch unternommen in den fünfziger Jahren, ein Stück Realismus einmal zu probieren. Es gibt das Selbstbildnis von ihm von 1951, das ihn in einer ganz einfachen, realistischen Pose zeigt. Ein sehr schönes Bild. Das hat er dann wieder beiseite gelegt: das war nicht seins. Da hat er sich nicht wohlgefühlt.

Ausgerechnet im Selbstbildnis nicht.

Das war er nicht!

Was für einen Rahmen brauchte es, um ihn zu besuchen?

Gar keinen, man ging in das Künstlerhaus und meldete sich da an. Der hat sich gefreut.

Was war deine Motivation, den alten Hermann Glöckner zu besuchen?

Ich wollte einfach authentisch sehen, wie er sich fühlt. Wie er aussieht, was er macht. Wie das Atelier aussieht.

Was war dein Eindruck?

Unheimliche Akribie, Präzision, so ein inneres Uhrwerk, das einen Rhythmus vorgibt, den Rhythmus des Lebens und den Rhythmus des Arbeitens. Hohe Konzentration.

Was er zeigte, ging bis in welche Zeit zurück?

Bis in alle Zeiten zurück, zwanziger Jahre auch. Die ersten Schwünge, die ersten Überlegungen, konstruktiv zu arbeiten, reichen ja in die zwanziger Jahre zurück. Aber ich muß sagen, daß ich mehr an einer emotionalen Begegnung interessiert war. Das war, bei Glöckner, eine ganz seltene Identität zwischen Mensch und Werk. Und eine Ruhe, die überhaupt nichts von dem hatte, worüber wir damals nachgedacht haben. Nämlich, wo man jetzt mal ausstellen kann und wie man vielleicht auch noch zu Geld kommt, wie man ein Event macht. Glöckner, das war etwas total anderes.

Worüber hat er gesprochen, damals?

(imitiert eine hohe, nasale Stimmlage:) Was machen Sie denn so? — Er war ein total hagerer Mensch, so eingefallene Wangen, schöne, weiße, fein zurückgekämmte Haare, ganz tiefliegende dunkle, etwas irrlichternde Augen. Und diese Bescheidenheit: im Atelier das Werk nicht altmeisterlich zu zelebrieren, sondern Mappe auf und dem jungen Mann zeigen, was Sache ist. Aber auch nicht missionierend!

Auch nicht im Gestus eines Lehrers — oder doch ein bißchen?

Ich war ja interessiert, real zu sehen, was Konstruktivismus ist. Ich habe meine ersten Erfahrungen mit Glöckner gemacht als Kind, als mich meine Mutter mit zu verbotenen Wohnungsausstellungen genommen hat, in den späten sechziger Jahren. Und ich habe dann Arbeiten gesehen von ihm in der Galerie Kühl in Dresden. Aber das war immer so fern, etwas ganz besonderes, da wußte man: das ist das eigentliche, darauf kann man irgendwie stolz sein, wenn das schon alles mit der Propagandakunst nicht hinhaut.

Nun nennst du ihn einen Konstruktivisten, aber es gibt ja auch eine ganze Strecke, die man Informel nennen müßte.

Das ist richtig. Ich habe das ja auch vorhin eingeschränkt und gesagt, daß die Dresdner Färbung seines Konstruktivismus ganz wichtig ist. Informel ist richtig, auch Neo- Geo kann man sagen. Es ist so ein gewisses Crossover. Das zeigt, wie offen er sich und sein Werk gesehen hat. Es konnte ihm gar nichts daran liegen, eine Schule zu bilden, in einer Tradition zu stehen. Er war ja an keine Entwicklung angeschlossen. Es gab insofern auch nur ganz wenige Austausch- und Reibungspunkte. Er hat in dem Versuch, selbst eine andere Temperatur in das Werk zu bringen, dann diese verschiedenen Schattierungen des Werks entwickelt. Das erste sichtbare äußere Zeichen war dann diese Freiplastik im Freigelände der Technischen Universität Dresden. Mitte der siebziger Jahre wurde darüber nachgedacht, so eine Arbeit von ihm hinzustellen — eine Art großes Mobile — und 1984 wurde sie dann aufgestellt. Zehn Jahre hat das gedauert! Mein Vater ist in Dresden Studentenpfarrer gewesen, und insofern hatten wir immer Informatiker und Mathematiker zu Haus, die dann auch darüber geredet haben, daß da so eine Arbeit hinsollte und wie toll das wäre.

Heißt das, daß man, um einer abstrakten Skulptur einen Zusammenhang zu geben, als Metapher das technische Umfeld gewählt hat?

Nur so war's möglich! Nur so war's möglich, ihn überhaupt hereinzuholen in DDR-Kunst, unter dem Aspekt von technischem Experiment, naturwissenschaftlicher Analyse, geometrischer Prinzipien — indem man das mit Kunst in Verbindung brachte. Auch bei Computerkunst bestand die einzige Möglichkeit, durch die „technische Intelligenz“ eine Würdigung herbeizuführen. Das Atomkraftwerk in Rossendorf gehört zu den interessantesten Ausstellungsorten für Dresdner Künstler, die marginal gearbeitet haben. Diese Techniker, Mathematiker, Physiker und Astro-Freaks haben unheimlich lange schon, in grauer Vorzeit, Dresdner Künstler, die marginal gearbeitet haben, ausgestellt. Und diese technische Intelligenz, die in Dresden ja sehr stark war, hat sich immer auch für diese randständige Kunst interessiert. Nur so hat es die Anfrage an Glöckner geben können.

Wie absurd! Eine Skulptur, die etwa auf dem Stand von Hans Uhlmann ist, oder von Heinz Mack.

Aber es ist natürlich interessant zu sehen, wie es wiederum eine eigene Entwicklung bei Glöckner gibt, die gar nicht gekoppelt ist an das, was in Westdeutschland und international passiert, und die dennoch Ähnlichkeiten in der Haltung zeigt. Glöckner hat ungefähr 1945, also nach dem Zusammenbruch, zusammen mit Edmund Kesting und anderen, die Gruppe „Der Ruf“ gegründet. Das war der verspätete Versuch, mit der klassischen Moderne, also den Ismen, nach '45 einen Neubeginn zu wagen, mit dieser Form der Abstraktion. Diese Gruppe ist '48 wieder auseinandergegangen. Bestand hatten nur Gruppen, die mit realistischen Prinzipien in die stalinistische Doktrin hineinpaßten — und in die so schlimme Realismus-Formalismus- Debatte. Weil seitens der Politik, und durch eine personelle Kontinuität, von Dogmatikern aus der Nazizeit in den sozialistischen Realismus hinein ein Verdikt gegenüber den Ismen, also der Moderne, weitergeführt wurde, was dann zu den schlimmen Geschichten in den fünfziger Jahren geführt hat.

Soll das heißen: Glöckner hatte nach '45 in den Personen die identischen Feinde?

Würde ich schon sagen. Also, jemand wie Diether Schmidt hat permanent in Dresden davon gesprochen; deshalb hat man ihn ja auch Anfang der achtziger Jahre inhaftiert und nach Westen abgeschoben. Also Diether Schmidt — der jetzt in Dresden Chef der Kunsthochschule ist, ein ganz übler Dogmatiker (aber ich schätze ihn nach wie vor, weil der nicht raus kann aus seiner Haut) —, der hat Tag und Nacht polemisiert gegen die Nazis in Dresden. Und hat damit Leute wie Joachim Uhlitzsch und andere gemeint, die an den staatlichen Museen saßen und die eigentlich aus der Nazizeit ihre Kunstauffassung transportiert hatten in den sozialistischen Realismus und eigentlich nie etwas anderes gedacht haben.

Interview: Ulf Erdmann Ziegler

Hermann Glöckner, Neue Nationalgalerie Berlin, bis zum 2.August 1992, täglich außer montags. Katalog 29 Mark.

Hermann Glöckner, „Die Tafeln 1919-1985“, hrsg. vom Hermann Glöckner Archiv, Eikon-Presse/ Verlag der Kunst, Dresden, sowie Galerie und Verlag Beatrix Wilhelm, Stuttgart (1992). 129 Mark.