DEBATTE
: Bund der Gerechten

■ Politische Romantik (nicht nur) in Ostdeutschland

Wo das Rechtsgefühl vieler nachhaltig enttäuscht wird, wächst der Hunger nach Sinn und Gerechtigkeit. Wissenschaftler nennen das „Identitäts- und Legitimationskrisen“. Das ist die Stunde derjenigen, die von der Politik leben oder sich zu ihr berufen fühlen. Sie raten „den Menschen“, endlich für die eigene Sache einzustehen und richten sich mit zur Schau gestellter Zerknirschtheit im Jammertal der Sekundär-Betroffenheit ein. Am besten, man gründet einen Verein und verschreibt sich der Gerechtigkeit.

Während die parteipolitischen Loyalitäten im Westen bröckeln, kommt ihr Aufbau im Osten nur schleppend voran. Unterdessen sind die Verwaltungsspezialisten und Einheitsbuchhalter, Bundesgeschäftsführer, Grundgesetzapostel und Finanzbeamten der etablierten Westparteien beinahe schon am Ende mit ihrem Latein. Das hat sich herumgesprochen — wie mißlich in einer Lage, wo die Probleme erst richtig auswachsen. Zugleich gerät in Vergessenheit, wer die DDR-Gesellschaft vierzig Jahre lang ruiniert hat.

Ein Symptom, das sich als Heilung ausgibt

Man kann freilich nicht bis zum Jüngsten Gericht die SED für alles haftbar machen. Das im Westen anhebende Geheul über die schnöden „Populisten und Spalter“ ist daher ebenso belanglos wie die Panik über das wachsende Potential von Protestwählern. Bei fortschreitender Unübersichtlichkeit droht zuerst der Verlust der Gewißheit, irgend jemand aus dem Kreis des staatstragenden Personals werde dieses Land schon maßvoll regieren — und dann der blanke Machtverlust. Man kann eben nicht ungestraft ein paar Millionen Menschen „beitreten“ lassen — in der guten Hoffnung, das alte Politikgeschäft werde schon ungestört fortgesetzt. Das von niemandem frei gewählte Experiment Einheit ist ein „sozialer Großversuch“ (Giesen/ Leggewie) sondergleichen, der mit schwer kalkulierbaren Risiken und Brüchen einhergeht.

Der hier und da suggerierte Eindruck, es gäbe auf breiter Front nur ostdeutsche Einheitsverlierer, trügt allerdings. Politische Freiheit und die Entmachtung des Stasi- und Polizeiapparates lassen sich nicht umstandslos gegen steigende Mieten oder Arbeitslosigkeit aufrechnen. Dennoch, die Lage ist alles andere als rosig. Wohl dem, der sich in solchen Zeiten seiner Haut zu wehren weiß. Ob einer Hand an sich legt oder seine Kinder drangsaliert: Es gibt zu viele Arten der privaten Selbstzerstörung und Schädigung anderer, als daß nicht jedwedes „Komitee“ das kleinere Übel wäre.

Doch warum ausgerechnet diese verklemmte Pseudo-Partei? Dagegen ist jeder Elternverein für Kindergartenplätze, jeder Radfahrerclub, jeder studentische Diskussionszirkel eine eminent politische gesellschaftliche Initiative. Und noch der Arbeitslose, der, ausgerüstet mit Wasserpistole und Pudelmütze, eine Filiale der Schweriner Volksbank behelligt und frei nach dem bekannten Brecht-Zitat das Seine herausverlangt, will uns da (bei allem Erschaudern vor soviel krimineller Energie) sympathisch erscheinen.

„Bürger zweiter Klasse, vereinigt euch!“

Die Hohlphrase von der Gerechtigkeit ist freilich weniger der frei flottierenden Verzweiflung im Osten entsprungen als vielmehr einer Kopfgeburt der gesamtdeutschen Blocks der politisch Heimatvertriebenen. Wir wollen uns garnicht aufhalten bei der personalen Melange. Nicht der illustre Personenkreis, sondern die buchstäbliche Substanzlosigkeit des bizarren Unternehmens ist das Problem. Da hilft keine Exegese des Gründungsaufrufs, keine Sinngebung des Sinnlosen — das „Komitee für Gerechtigkeit“ ist eine politische Grille.

Kaum zu glauben, daß westliche Intellektuelle dieses groteske Projekt unterstützen. Allein schon die Schlußstrichmentalität des Stasi- Seelsorgers Diestel sollte zu denken geben. Auch das taktische Argument, man müsse flugs mit eigenem Unsinn daherkommen, bevor es ein Schönhuber tut, ist fadenscheinig. Es gibt eine Verantwortungslosigkeit, die als treusorgendes Mitgefühl der guten West-Menschen auftritt. Wo indes die politische Debatte einen kaum zu unterbietenden Tiefpunkt erreicht, dürfen Frau und Mann im Westen es ruhig einmal besser wissen. Und sollten sich nicht mit der politischen Unzurechnungsfähigkeit einiger Ostdeutscher solidarisieren. Denn wo die Gefahr wächst, wächst zwar manchmal auch das Rettende, stets aber und vor allem der politische Unfug. Zum Beispiel jener im Westen wiederaufbereitete Antikolonialismus. „Unsere Neger“ leben jetzt im nahen Osten. Und was liegt näher, als eine bankrotte Imperialismustheorie auf das „Anschlußgebiet“ unserer mühseligen und beladenen Brüder und Schwestern zu übertragen?

Die anspruchslose Additionsreihe „Versagen des Parteienkartells plus soziale Deklassierung im Osten plus schiffbrüchige Ex-DDR-Politiker plus wohlmeinende West-Menschen mit schlechtem Gewissen“ — diese Addition jedenfalls ergibt noch lange keine zündende politische Idee. Anders gesagt: Das Ausmaß der Misere ist kein einheitsstiftender Grund für eine politische Organisation „der“ Ostdeutschen. Es grenzt ohnehin an Selbststigmatisierung, einzig den Status des ach so schändlich gebeutelten DDR-Menschen zum Fluchtpunkt einer politischen Organisation zu machen. „Bürger zweiter Klasse, vereinigt Euch!“ — unter dieser Losung werden keine konkreten Interessen praktisch umgesetzt.

Von wegen „Gerechtigkeit“. Das melodramatisch inszenierte Verlangen danach ist nichts anderes als der kleinste gemeinsame Null-Nenner einer Koalition des größten anzunehmenden Unsinns. Der Grenzsoldat, dem jetzt die Strafjustiz den Prozeß macht, wird die Sache mit der Gerechtigkeit anders buchstabieren als die Eltern des getöteten Republikflüchtlings. Das Postulat indes ist pathetisch genug und kann beliebig aufgeblasen werden. Erich Honecker mag getrost das Moskauer Exil-Komitee für Gerechtigkeit ausrufen.

Von wegen „Überparteilichkeit“. Das deutsche Bedürfnis nach Harmonie, Synthese und pflegeleichtem Konsens sehnt sich, zumal wenn es brenzlig wird, stets nach einer dem Streit entrückten übergesellschaftlichen Vernunft. Diese Funktion würde traditionellerweise dem Obrigkeitsstaat als einer „über den Parteien“ stehenden Instanz angedichtet: heute halluziniert das romantische Gefühl „Gerechtigkeits“-Komitees an diese Leerstelle der Politik. Ob in alter oder neuer Gestalt — hier meldet sich nichts anderes als die Unfähigkeit zur Politik schlechthin. In nicht homogenen, durch vielfältige Interessenskonflikte strukturierten, demokratisch verfaßten Gesellschaften ist die entzweiende Parteiung, an der sich Konflikte kristallisieren, unausweichlich und niemals zu heilen. Darüber aber ist das unglückliche Bewußtsein der „Zerrissenheit“ noch immer tief betrübt.

Auch Politikmüdigkeit will gelernt sein

Die Schnapsidee in Sachen „Gerechtigkeit“ ist, alles in allem, ein Symptom, das sich als Heilung der Krankheit ausgibt. Mag sein, daß hierzulande die Vereinsmeierei besonders unwiderstehlich fasziniert. Dem ziehen wir die — durchaus unbequemen — Stehplätze am Rande vor; und sehen mit Spannung der ersten Landesversammlung jener Komitees entgegen, deren politische Verwirrung heilloser zu werden verspricht als der Turmbau zu Babel. Noch bevor die Gerechtigkeits-Phrasen vom Winde verweht sind, werden andere deutsche Sammlungsbewegungen zu den Fahnen rufen. Dagegen hilft die Gelassenheit, sich den nicht gerade alltäglichen Problemen der deutschen Einheit zu stellen; selbst auf die Gefahr hin, daß keine Patentrezepte zur Hand sind. Auch Politikverdrossenheit will gelernt sein. Wo das Gründungsfieber ins Kraut schießt, halten wir es besser mit Groucho Marx, von dem zur Organisationsfrage überliefert ist: „Ich würde niemals einem Club beitreten, der mich als Mitglied aufnimmt“. Horst Meier

Jurist und Autor, lebt in Hamburg