Bosnische Kriegsflüchtlinge in Uniform

Im Norden Bosniens sind Tausende bosnischer Soldaten vor der Übermacht der Serben geflohen/ In Bosanski Brod sitzen 1.500 von ihnen fest — mit 370 serbischen Kriegsgefangenen/ Kroatische Soldaten jenseits der Grenze eilen zu Hilfe  ■ Aus Slavonski Brod Th. Schmid

Eine Landschaft, wie man sie sich friedlicher kaum vorstellen kann: saftige Wiesen, fette Kühe, ein breiter Fluß, der seinen Wasserstrom erhaben davonträgt. Allein die Sandsäcke vor den Fenstern, die Einschüsse an den Mauern, das verkohlte oberste Stockwerk eines Hochhauses, ein ausgebrannter Bürokomplex und die menschenleeren Straßen erinnern in der kroatischen Grenzstadt Slavonski Brod daran, daß Krieg ist. Auf der andern Seite der Save, im bosnischen Bosanski Brod, sind die Spuren der Kämpfe noch deutlicher. Gleich am Stadteingang zeugen ein halbes Dutzend bis auf die Grundmauern zerstörte Häuser vom Geschehen.

Es ist Sonntag 18 Uhr. Der Waffenstillstand ist in Kraft getreten. Niemand hier glaubt jedoch daran, daß das Londoner Agreement das Papier wert ist, auf dem es steht. Denn in diesem Krieg ist bisher noch jede vereinbarte Waffenruhe gebrochen worden. Diesmal stehen die Chancen kaum besser. Die ganze letzte Nacht und den Morgen über, bis in den späten Sonntagnachmittag sind Granaten eingeschlagen. Um sieben Uhr wurde in Slavonski Brod eine Frau getötet.

Am Nachmittag ging in Bosanski Brod ein Munitionslager in Flammen auf. Punkt 18.13 Uhr gibt die Realität den Skeptikern recht. Ein dumpfer, ohrenbetäubender Knall. Eine Granate ist eingeschlagen. Zwei weitere folgen. Gegen 20 Uhr kracht es von neuem, wieder zwei Granaten. Kurz vor 23 Uhr eine sechste. In der Ferne sind Maschinengewehrsalven zu hören.

Die mächtige Brücke, die hier nicht nur zwei Städte, sondern auch zwei unabhängige Staaten verbindet, hat in den letzten Tagen Geschichte gemacht. Allein in der zweiten Juliwoche sind hier über 80.000 Bosnier nach Kroatien geflohen. Durch den Versuch serbischer Kräfte, einen Korridor von der Republik Serbien zu der vorwiegend serbisch besiedelten bosnischen Krajina freizubomben, ist der nordbosnische Raum zum Hauptkriegsplatz der letzten Wochen geworden. Bosanski Brod, mehrheitlich kroatisch besiedelt, ist inzwischen die einzige Stadt im Norden Bosniens, die nicht von serbischen Milizen erobert oder wie Tuzla, Gorazde und Sarajevo umzingelt ist. Doch die Front ist nah. Im Süden ist sie bis auf 15 Kilometer herangekrochen, Im Osten der Stadt sogar bis auf sieben Kilometer.

Gleich hinter der Brücke, auf der bosnischen Seite, steht ein seltsamer Flüchtlingstreck. Etwa 300 Fahrzeuge: Vor allem Traktoren und Brückenwagen, aber auch einige PKWs, Autobusse und ein halbes Dutzend Feuerwehrwagen. Daneben stehen Männer in Uniformen: Es ist die 102. Brigade der bosnischen Streitkräfte. Fast alle der Unformierten kommen aus Modrica und Odzac, beides Städte, die etwa 50 Kilometer entfernt liegen und inzwischen von serbischen Kräften erobert sind. Am 9. Juli hätte ihnen das Kommando befohlen, die Verteidigung der beiden Städte aufzugeben und sich nach Bosanski Brod zurückzuziehen, berichtet Alija Toric in fließendem Französisch. Doch dann wären die Kommandanten samt logistischer Abteilung, Sanitäts- und Küchenpersonal als erste getürmt. Zwar hätte es die Hälfte der Brigade mit Frauen und Kindern ebenfalls noch geschafft, sich abzusetzen. Der Rest aber sei gestoppt worden, weil die Kroaten inzwischen die Brücke gesperrt hätten. So sitzen sie nun hier, etwa 1.500 Männer, zwischen 18 und 60 Jahren, und fühlen sich verraten.

Ihre Lage ist verzweifelt. Hinter ihnen die Front, die immer näher zu kommen scheint, vor ihnen die gesperrte Brücke, dazwischen der Fluß, der vermint sein soll. Dazu den ganzen Tag über Granatenhagel. Vor ihnen, in etwa hundert Meter Entfernung, qualmt noch immer ein ausgebrannter Bus. „Noch ein Tag, vielleicht zwei“, prophezeit der 52jährige Toric, der bis zum Kriegsausbruch als Elektriker gearbeitet hat, „und dann sind sie hier. Kaum jemand kann sie zurückhalten, keiner ist an der nahen Front. Bosanski Brod hat kaum mehr Verteidiger.“ Famos Strolit, 46, Offizier der geschlagenen Armee und vor dem Krieg Direktor eines nunmehr zerstörten Unternehmens, das Panzerteile herstellte und 1.500 Mitarbeiter beschäftigte, pflichtet ihm bei. Seine Frau ist vor zehn Tagen geflohen. Er werde sie bestimmt nie wiedersehen, fürchtet er. „Ich glaube nicht, daß ich da lebend herauskomme.“ Toric ist anderer Meinung. Er ist sich sicher, daß man die Brücke aufmachen wird, wenn die „Tschetniks“ kommen.

Daß die Männer — vorwiegend Muslime, aber auch einige Kroaten und wenige Serben — nicht mehr kämpfen wollen, ist verständlich. Sie haben mit ihren leichten Waffen der Artillerie und der Luftwaffe der serbischen Seite wenig entgegenzusetzen. Ihre Heimatstädte Modrica und Odzak sind zerschossen und zerbombt. Allein in Modrica starben nach Aussagen der Soldaten 500 Menschen, davon 50 Truppenangehörige. Weitere 500 Zivilisten wurden in Odzak getötet. Fünf Leichen, die zu bestatten keine Zeit mehr war, hätten sie bei ihrem Rückzug noch mitgenommen, berichtet Jerko G. Seinem Schwiegervater und vier weiteren Personen hätten die Tschetniks einfach die Kehle durchgeschnitten. Die 930 Patienten des Kriegslazaretts — viele mit amputierten Gliedmaßen — hätten sie noch nach Slavonski Brod herausschaffen können.

Aber einen kleinen Sieg haben die Soldaten der 102. Brigade doch vorzuweisen. Sie halten 370 serbische Gefangene fest, die sie auf ihrem Rückzug mitgenommen haben. Weitere 360 Serben haben sie vor kurzem gegen muslimische und kroatische Gefangene in Bosanski Samac, 40 Kilometer flußabwärts, ausgetauscht. Das Gefängnis der kriegsmüden Brigade befindet sich am Stadtrand von Bosanski Brod. Dort sitzen in einer gedeckten, zu einer Seite hin offenen, nur durch einen Gitterzaun abgesperrten Materialhalle dicht an dicht Männer in jedem Alter. Die meisten hatten erst eine, höchstens zwei Wochen gekämpft, als sie sich vor 74 Tagen ergaben. Nun säßen sie bereits seit neun Tagen hier, sagt ein etwa 60jähriger Mann, der einen Wundverband trägt, deutsch spricht, aber seinen Namen nicht nennen will. Natürlich sei das Essen schlecht und wenig, aber dies sei wohl normal in diesen Zeiten. Behandelt würden sie korrekt. Wächter und Bewachte kennen sich, sie sind fast alle aus Odzac und Modrica. Es wäre ein leichtes, hier abzuhauen. Aber wohin? Hinter ihnen steht die Front, vor ihnen die geschlossene Brücke. Ob man je wieder zusammenleben könne im Dorf? Der serbische Gefangene Dragan Jelic, ein Freund und Arbeitskollege des kriegsmüden muslimischen Soldaten Toric, meint ja. „Man sagte uns, die kroatische Armee greife das Dorf an, und so habe ich mich eben, wie andere auch, rekrutieren lassen.“ Sie alle fühlen sich manipuliert. Nein, Tschetniks seien sie nicht.

Während die einen hinter dem Gitterzaun sitzen, kochen die andern, kaum einen Kilometer entfernt, zwischen ihren Treckern Tee, saufen Slivovitz und warten darauf, daß die Serben Bosanski Brod einnehmen. Der Bürgermeister und etwa viertausend der fünftausend Einwohner haben die Stadt bereits verlassen. Der Bahnhof steht leer. Restaurants gibt es keine mehr und auch keine Läden. Nur noch eine Bäckerei versorgt die kriegsverdrossene Truppe mit Brot. Bosanski Brod scheint verloren.

Scheint. Denn die Stadt hat offenbar noch andere Verteidiger. Im örtlichen Kommando der 101. Brigade tragen viele Soldaten das Wappen Kroatiens an der Gürtelschnalle und am Hemd. Nur der verräterische Aufsticker mit den Buchstaben „HV“ (kroatische Armee) fehlt oder ist durch ein notdürftig angenähtes „HVO“ (Kroatischer Verteidigungsrat) ersetzt worden. Kein Kommandant ist zu sprechen. Auf die Soldaten der 102. Brigade, die nicht mehr kämpfen wollen, ist man hier schlecht zu sprechen. „Die haben uns das hier eingebrockt“, meint ein Unteroffizier. Auf das Wappen an seinem Ärmel angesprochen, fügt er verschmitzt hinzu: „Wir sind hier alle Kroaten.“ In der Tat ist die serbische Minderheit nach den erbitterten Straßenkämpfen vor zwei Monaten aus der Stadt geflohen. Übrig geblieben sind die Kroaten und die muslimische Minderheit. Der Verdacht, daß Bosanski Brod Verstärkung von jenseits der Save erhält, erhärtet sich auf dem Rückweg nach Slavonski Brod. Auf der Brücke rauschen sieben Militärlastwagen mit bewaffneten Soldaten vorbei. Einer führt sogar ein Geschütz mit. Die Kennzeichen der kroatischen Armee wurden nicht einmal ausgetauscht. Ihre Insignien ebensowenig. Einer hat sogar ein großes Poster von Franjo Tudjman, dem kroatischen Präsidenten an der Windschutzscheibe hängen.

Angesichts der permanenten Beschießung der kroatischen Grenzstadt Slavonski Brod durch serbische Milizen, angesichts der Tatsache, daß auf der bosnischen Seite, in Bosanski Brod, fast nur noch Kroaten wohnen, mag man Verständnis für diese offiziell immer dementierte Intervention Kroatiens aufbringen. Weshalb sollte das angegriffene Kroatien nicht zurückschlagen, auch auf die andere Seite hinüber, woher die Granaten kommen? Für die Armee gibt es offenbar hier zwischen den beiden Brods keine Grenze — nur für die Flüchtlinge und die kriegsmüden Soldaten.