Die grüne Versuchung

■ Teil 3 der taz-Sommerserie entlang der deutschen Küste: Heute von der Insel Spiekerook

„Da, ein Seehund“, sagt die Frau aus Neuharlingersiel, deren Vater der alte Seebär von der „Gold-Dollar“-Zigarettenschachtel war, „aber dafür fehlt den Landratten ja das Auge.“ Oft sitze sie einfach da und schaue stundenlang aufs Meer. Wie der typische Küstenbewohner hat sie ein sinnliches Verhältnis zum Meer wie der Großstädter zur Morgendusche. Früher wohnte sie direkt am Hafen, jetzt 200 Meter vom Wasser entfernt, und das ist schon weit weg. Ihr einziges Problem: Wie rettet sie sich bei einer Sturmflut? — Sie fährt zu ihrer Tante nach Spiekeroog, und auch sie muß den normalen Preis für die Fähre zahlen: 26 DM hin und zurück bei An- und Abreise am gleichen Tag. Auf der Fähre drängen sich die Menschen wie Ölsardinen.

Dabei hat Spiekeroog in letzter Zeit nur Negativschlagzeilen gemacht, als Insel der Verbote. Zum Beispiel Fahrradfahren: Wenn alle Menschen immer so viel Fahrrad führen wie im Urlaub, sähe es auf Deutschlands Straßen anders aus. Aber auf Spiekeroog ist nicht mal Fahrradfahren überall gerne gesehen. Auf der Hauptstraße weisen amtliche Verkehrsschilder die fahrradfreie Zone von 9 bis 22 Uhr aus, auf den Hauptwegen zum Strand ist seine Benutzung ebenfalls verboten. „Ein uralter Hut“, wiegelt der Gemeinderat ab, der einen dringenden Termin hat und mich an die Standesbeamtin der Insel, Frau Hein, verweist. Die kennt sich nicht nur bei den ehelichen Pflichten aus, sondern hat eine ganze Blattsammlung von Verboten zur Hand: Das Auto ist schon seit 1969 von der Insel verbannt, die einzig akzeptierten Verkehrsmittel sind Bollerwagen und Rollstühle. Und damit nicht genug: Verboten ist ferner jegliche Bautätigkeit in den Sommermonaten, die Benutzung von Musikgeräten in der Öffentlichkeit, ruhestörender Lärm sowieso, das Musizieren in Wirtschaftsgärten, Campen außerhalb des Campingplatzes, das freie Herumlaufen von Hunden sowie das Ausklopfen von Gegenständen aus der Hauptstraße zugewandten Fenstern oder Balkons und so weiter. „So isses halt“, sagt die Standesbeamtin achselzuckend, Beschwerden von den Gästen kämen nicht. Vielleicht sind die auch schon von 4,20 DM Kurtaxe pro Tag sprachlos. Spiekeroog kann sich's leisten, denn eine gewisse Klasse sollte der Urlauber schon mitbringen, um sich hier wohl zu fühlen: Ruhe, Natur und nochmals Ruhe heißen die Image-Marken der Insel. Die Straßen sind sauber wie geleckt, die Restaurants haben auffällig viele vegetarische Gerichte anzubieten, verzichten auf jegliches Plastikgeschirr, die Hotels haben sich zu einer Abfallvermeidungsgesellschaft zusammengeschlossen, die Bevölkerung kompostiert leidenschaftlich.

Entschädigt wird er für seinen Verzicht auf ungehemmte Ausbeutung der Natur durch einen wunderschönen Strand hinter einer mondähnlichen Dünenlandschaft: Wasser, Sand und Himmel, sonst nichts, doch davon jede Menge. Und wer bei soviel gutem Umweltgewissen mal dringend sündigen muß, der kann zum Kiosk am Hafen gehen: Da gibt's noch Bier in Dosen — denen mit dem grünen Punkt. Lutz Ehrlich