Chronik eines tödlichen Skandals

Seit 1982 ist die Gefahr der Infizierung von Blutplasmapräparaten mit dem Aids-Virus in Frankreich bekannt  ■ Aus Paris Bettina Kaps

Alles an diesem Prozeß weckt die Zweifel und die Empörung der Aids- kranken Bluter und ihrer Familien. Da ist zunächst die Langsamkeit, mit der sich die Justiz des Skandals annahm. Fünf HIV-Infizierte mußten selbst die ersten Beweisstücke suchen: Sie fanden sie im Tätigkeitsbericht des Nationalen Zentrums für Bluttransfusion (CNTS) für 1982. Darin hieß es, daß die Bluter wegen der neuen Krankheit Aids von den gerinnungshemmenden Faktor-VIII-Konzentraten abrücken müßten. Die Wirklichkeit sah anders aus: Bis zum Herbst 1985 verschrieben viele Hämatologen die tödlichen Präparate stillschweigend weiter, die Kasse ersetzte sie bis zum 2. Oktober.

Erst im März 1988 wurden die ersten Klagen erhoben. Inzwischen sind bereits 256 Bluter gestorben und niemand weiß, wieviele der gut tausend weiteren Transfusionsopfer das Urteil — es soll im Herbst fallen — noch erleben werden.

Wütend macht sie auch die Anklage und der Tatbestand: Nur vier Ärzte-Funktionäre stehen seit dem 22. Juni in Paris vor Gericht, kein behandelnder Hämatologe, kein Politiker. Dem früheren Direktor des CNTS, Michel Garretta, und seinem Forschungsleiter, Jean-Pierre Allain, wird nicht etwa „Vergiftung“ zur Last gelegt, sondern nur „Täuschung über die Qualität einer Ware“ — „nach einem Gesetz, das für Senf, für Joghurt oder für Mineralwasser gemacht wurde“, empörte sich Sabine Paugam, die Anwältin der Bluter-Vereinigung.

Wegen „unterlassener Hilfeleistung“ sind der frühere Generaldirektor für Gesundheit im Ministerium, Jacques Roux, und der ehemalige Leiter des Nationalen Labors, Robert Netter, angeklagt: Statt dem CNTS eine andere Politik zu befehlen, statt ihre Minister eindeutig auf die Tragödie hinzuweisen, hielten die beiden hohen Beamten kleinlaut den Mund und ließen alles laufen. Gegen besseres Wissen, aber auf Befehl „von oben“ gab Netter 1985 die Anweisung, den US-amerikanischen Aids-Test drei Monate lang vom Markt fernzuhalten. „Als Beamter muß man gehorchen oder zurücktreten“, lautet ihre Überzeugung. Verantwortung lehnen sie ab.

Zuerst ging es in diesem Prozeß vor allem um Daten: Wer wußte was wann von der neuen Immunschwächekrankheit und ihren Übertragungswegen? Wann gab es keinen Zweifel mehr, daß Blut tödlich sein konnte, daß die riesigen Pools mit dem Plasma von mehreren tausend Spendern infiziert sein mußten? Wann war die Technik zur Inaktivierung des Virus durch Erhitzen der Blutderivate bekannt?

In den Verhören trat eine Kette von Fehlern, Irrtümern und Nachlässigkeiten zu Tage. So steht inzwischen fest, daß Garretta alles Wissen und alle Warnungen gezielt ignoriert hatte. Der früher so arrogant auftretende Arzt und Manager hatte offenbar nur noch eins im Kopf: die Wettbewerbsfähigkeit seiner Firma. Das CNTS hatte das staatliche Monopol für den Import von Blutprodukten. Garretta allein entschied — und verhinderte den Kauf von ungefährlichen Konzentraten, die ihm schon früh aus den USA und aus Österreich angeboten wurden, um den Konkurs seiner Firma zu vermeiden.

Das CNTS verfügte damals über — verseuchte — Blutreserven im Wert von fast 30 Millionen Mark. Die hätte es vernichten müssen, sobald die Gefahr bekannt war. Doch Garretta und sein (nicht angeklagter) Wissenschaftsdirektor Habibi befahlen noch im Juli 1985 das Aufbrauchen der nicht erhitzten Produkte. Allain hingegen erforschte das Infektionsrisiko seit September 1983 am lebenden Objekt: Er legte eine Studie an über 405 Bluter, die ohne Warnung unbehandelte Konzentrate erhielten. Aus den Zeugenaussagen ging hervor, daß die Gefahr für die Bluter schon von 1983 an hätte erkannt und verringert werden können.

Resigniert nehmen die Opfer zu Kenntnis, daß viele Zeugen und — so beteuern manche — auch der vorsitzende Richter vertuschen wollen, wie weit die Verantwortung reicht. „Das ganze ist nur eine Parodie“, sagt eine Klägerin. Wichtige Dokumente scheinen verschwunden zu sein, ein Untersuchungsbericht soll geglättet und geschönt worden sein. Vor Prozeßbeginn hatte sich Garretta lauthals geweigert, den Sündenbock abzugeben. Doch es scheint zweifelhaft, daß das ganze Ausmaß des „Blutskandals“ ans Licht kommen wird.