Sylt ist anders — auch andersherum

■ Teil6 der taz-Serie von Deutschlands Küsten/ Heute zur Sylter Schwulenszene

Sylt ist anders: Das fängt schon mit der Anfahrt an, die sich der Monopolist „Deutsche Bundesbahn“ — das Unternehmen zurück aus der Zukunft — teuer bezahlen läßt. Und hört mit der Inselwährung „American Express“ nicht auf: „Lassen Sie Ihr Bargeld stecken.“ Ob Taxi oder Kopfschmerztablette — alles läuft à la carte in der „Freien Republik Sylt“, so der Titel eines lokalen, literarischen Bestsellers.

Weil auf Sylt alles anders ist, sind auch viele Gäste andersrum, homosexuell. Eine knappe halbe Stunde Fußmarsch südlich von Westerland befindet sich die „Oase“, der schwule Strand Deutschlands schlechthin. Hinter dem noch strandkorbbewehrten FKK-Strand Nord beginnt die eigentliche „Homosexuellenoase“. Schon von weitem ist sie an den nackten Männern zu erkennen, die hoch in den Dünen Position bezogen haben und ungefähr so wirken wie Indianer zwischen dem Ausgraben des Kriegsbeils und der Attacke. Unten im etwas grobkörnigen, dafür natürlichen Sand sitzt man nicht zurückgezogen hinter Korbgeflecht mit scheußlich gemusterten Innenstoffen, sondern liegt lang ausgebreitet auf Handtüchern, entweder ganz allein oder im lockeren Gruppenverband, mit genügend Entfaltungsspielraum: wie die Tiger vor dem Sprung und wie die Tiger im Zoo, die zwar gelernt haben, daß sie die Besucher nicht zerfleischen dürfen, aber trotzdem noch diesen animalischen Urinstinkt in sich fühlen. Statt dessen wird sich auf die imaginäre Schlacht vorbereitet: Man cremt vor sich hin. Lothar kommt erst spät heute, weil er gestern das Cremen vergessen hat.

Nackt sind alle Menschen gleich, nur Schwule nicht: In der Oase trifft sich bevorzugt das Mittelalter, da hat sich der eine besser gehalten als der andere mit dem unübersehbaren Rettungsringansatz. Erst wenn sie sich anziehen, gleichen sie sich fast wie ein Ei dem anderen. Aber noch liegen sie auf ihrem Handtuch, bevorzugt auf dem Rücken, weil so das Geschehen in den Dünen besser zu beobachten ist, und drehen sie sich mal um, dann legen sie als erstes ihren Schwanz in Schokoladenposition. Die Gespräche drehen sich um den Hund, die Katze und den Apfelstrudel mit Vanillesauce, an dem Günther aus Wuppertal nicht vorbeikommt. Für wirkliche Aufregung sorgte in den letzten Tagen nur ein bildhübscher 28jähriger mit langen, schwarzen Haaren, dem die Bedienung in der Nobel-Homo-Disco „KC“ angeblich Korn in den Sekt geschüttet haben soll — vergeblich.

Ein letztes Bad vor Sonnenuntergang im Meer, das hier den Vorteil hat, bis an den Strand zu reichen: Mit schrill ausgestoßenen „Ooohs“ wird sich die Manneskraft bewiesen, danach folgen die ersten Verabredungen für den Abend: „Um zehn an der Frauenskulptur auf der Promenade.“ Dann sieht man weiter, denn bisher ist keinem der beiden ein Lokal eingefallen, das sowohl schwul ist als auch Tische draußen stehen hat. Um zehn singt genau an der Frauenskulptur auf der Promenade ein Shanty-Chor vor Tausenden von Leuten: Sie haben sich nicht getroffen. In der Schwulenbar „Ringelspiel“ läuft von CD „Wia zwoi g'hörn z'samma“, interpretiert von den „Feuchthubers“, am Strand trotzt ein Plakat dem Wind: Die „Schlager-Souvenirs92“ kommen nach Sylt — mit Rex Gildo und Bernd Clüver live. Welch eine Oase. Lutz Ehrlich