Mozart für Einheimische — MS Wiking für Touristen

■ Teil7 der taz-Serie von Deutschlands Küsten: In Flensburg elektrisiert Justus Frantz die Nordlichter

Das Publikum trampelt mit den Füßen — und der Maestro genießt das sichtlich. Wenn es einen heimlichen König Schleswig-Holsteins gibt, dann ist es der Intendant der Musikfestivals, Justus Frantz, im Nebenberuf sein eigener Zeremonienmeister: Erst das Klavierkonzert von Mozart mit ihm als Solisten, dann Rossinis Ouvertüre zu „Wilhelm Tell“ mit ihm als Dirigtenten, wobei er sich am Pult abrackert wie ein Schwerstarbeiter. Er läßt das litauische Orchester alle Register ziehen, so daß das „Deutsche Haus“ in Flensburg unter seinen Taktschlägen fast zu zittern beginnt.

Hinter dem „Deutschen Haus“ parken die schwarzen Sponsor-Audis des Festivals neben den heruntergefahrenen Ikarus-Bussen aus Litauen, Estland und Lettland, deren Fahrer die Dauer des Konzerts für die angefallenen Reparaturen nutzen. In der Pause stürzt sich ein Besucher auf die baltischen Chorknaben, sucht händeringend jemanden aus Tallin, dem er eine Dusche für einen Freund dort mitgeben will. Touristen finden sich nur vereinzelt im Publikum; sie hätten auch keine Karten mehr bekommen, denn so lange, wie dieses Konzert schon ausverkauft ist, kann niemand Urlaub haben — zumindest niemand, der an der Ostsee Ferien macht.

Hier im Hohen Norden fängt sie ganz klein an, die Ostsee, als Hafenbecken in Flensburg, und kann sich auch die nächsten 50 Kilometer nicht entscheiden, ob sie mehr als ein großer See mit leicht gesalzenem Wasser werden soll. Wie eine riesige Badewanne dümpelt sie vor sich hin, als warte sie auf ihre große Karriere als Modell für Spielzeugeisenbahnlandschaften. Das Grün der Wälder wechselt sich mit dem Gold der Felder ab, für die knalligen Farbtupfer sorgen die Touristen, die gar nicht bunt genug angezogen sein können, immer nach dem Motto: Wenig, aber kräftig. Die Herren bevorzugen Shorts, die kurz vor den Knien aufhören und am besten zwei verschiedenfarbige Hosenbeine mit unterschiedlichen Mustern haben. Bei den Damen gerne getragen sind weite, fast kleidartige T-Shirts in knallrosa, die mit einer Zwischenform aus Strumpf- und-Jogginghose in lila kombiniert werden. Man gibt sich leger und fühlt sich schon ganz wie zu Hause, was besonders für Familie Jakoby aus Wuppertal gilt, die für ihr zwanzigjähriges Ostsee-Urlaubsjubiläum in Kronsgaard eine Prämie des örtlichen Fremdenverkehrsverbands erhielt.

Da weiß man, was man hat: Zum Beispiel einen halben Tag Unterhaltung für ganze drei Mark, bei einer Schiffsfahrt von Kappeln nach Sonderborg in Dänemark, ein Angebot, dem Hunderte nicht widerstehen konnten und die sich jetzt an Bord der MS Wiking drängeln, um ganz nebenbei auch zollfrei einzukaufen: „Dahinten ist die Krönung, aber light, und für 6 Mark 95 gibts die bei uns zu Hause im Supermarkt auch.“ — „Aber hier nicht“, sagt ihre Bekannte und greift beherzt zu, nachdem sie sich von ihrer Tochter den Preis noch mal bestätigen läßt: Tragischerweise hat sie für diese Aussichtsfahrt ihre Brille vergessen. „Billig ist hier nur das dänische Zeugs“, weiß eine andere; sie kauft trotzdem, was soll man auch sonst machen, wenn zwei Stunden draußen nur Wasser ist. Für den Landgang im dänischen Sonderborg sind 15 Minuten eingeplant, das reicht gerade für die Ausweiskontrolle und um sich mit den vollen Tüteh am Arm wieder in der Schlange für die Rückfahrt anzustellen. Zurück auf deutschem Boden erfolgt die Verabschiedung: „Na dann bis nächste Woche.“ Lutz Ehrlich