Hunger und Tod im Ghetto von Gorazde

■ Nach dem Scheitern zweier Hilfskonvois ins eingekesselte Gorazde verzweifelt Bosniens Bevölkerung an UN-Einsatz

Seit zwei Wochen liegt die muslimanische Enklave Gorazde im Osten Bosniens unter dem Dauerbeschuß serbisch-jugoslawischer Armeeverbände — eingekesselt und abgeschnitten von der Außenwelt. Zwei UN-Konvois mit Nahrungsmitteln und Medikamenten für das 70 km von Sarajevo entfernte Gorazde kehrten auf Wunsch der Leitung des Kontingents in Bosnien (UNPROFOR) am Samstag auf halber Strecke zurück. Ein Spähpanzer war zehn Kilometer vor dem Ziel auf eine Mine gefahren, alle Lastzüge mußten unverrichteter Dinge umkehren. Im Sarajevoer Fernsehen meinte dazu einer der Konvoibegleiter, Kommandant Fabrizio Hochschild: „Ich weiß wirklich nicht mehr, was wir tun sollen. Die Lage in Gorazde muß erschütternd sein. Aber wir können keine lebensgefährlichen Aktionen riskieren. Was jetzt noch bleibt, ist der Abwurf von Lebensmitteln von Kampfflugzeugen aus.“

Eine Forderung, die man aus Gorazde schon seit Wochen vernimmt. Die Funkamateure aus der umzingelten Stadt melden sich über Radio Sarajevo, wann immer sie eine Möglichkeit finden, mit dramatischen Appellen: „Wenn die Vereinten Nationen zu feige sind, uns militärisch beizustehen, warum werfen sie nicht aus der Luft zumindest Munition und Lebensmittel ab?“ Ein anderes Mal meinte ein Funker: „Warum hat kein Journalist den Mut, per Fallschirm in unserem Ghetto zu landen, um vor Ort zu berichten, wie hier die ersten Menschen den Hungertod sterben?“

Den Berichten zufolge sterben täglich etwa 20 Menschen an den Folgen von Unterernährung, Wassermangel und unzureichender medizinischer Versorgung. Außerdem würden täglich Dutzende von Menschen Opfer der Dauerbombardements serbischer Panzer, die in den Bergen Stellung bezogen hätten. „70.000 Menschen, zwei Drittel Frauen und Kinder, sind dem Tode ausgeliefert, zusammengepfercht in einem Ghetto, das einem einzigen großen KZ ähnelt“, so ein Funker.

Izetbegovic: „Wir brauchen Waffen“

Selbst Alija Izetbegovic, der machtlose Präsident Bosniens, meinte kürzlich im staatlichen Fernsehen: „Ich habe das Gefühl, in Gorazde muß erst ein schreckliches Massaker mit Tausenden von getöteten Zivilisten passieren, bis die Welt aufwacht.“ Izetbegovic, bislang ein unverbesserlicher Optimist und besonnener Politiker, scheint seit dem Dauerangriff auf Gorazde jede Hoffnung auf eine friedliche Lösung verloren zu haben. Im Fernsehen erklärte er: „Wir brauchen Waffen. Dieser Krieg läßt sich nur noch militärisch beenden.“

Während die UNO nach wie vor an ihrem Auftrag festhält, in Bosnien ausschließlich auf humanitärem Gebiet zu helfen, hat die Bevölkerung offenbar jegliches Vertrauen in den Einsatz der UNPROFOR verloren. Wenn man dem Oberbefehlshaber der Truppen, General Lewis McKenzie, glaubt, so sei man seinen Leuten längst nicht mehr dankbar, wenn sie wieder eine Hilfsladung Lebensmittel nach Sarajevo durchbrächten. In den bosnischen Medien werden die Aktionen der UNO neuerdings sogar ins Lächerliche gezogen. Roland Hofwiler