„Die Esten brauchen unsere Fachkräfte“

Seit der Unabhängigkeit sind die einst privilegierten Russen zu einer Bedrohung und zu unerwünschten Ausländern geworden  ■ Aus Narva Jens Siegert

Wie zwei Ritter in grauen, unbeweglichen Rüstungen stehen sich die Burgen Narva und Ivangorod gegenüber. Eine schmale Brücke bildet die einzige Verbindung zwischen den gleichnamigen Städten. Dazwischen fließt schnell und nur 200 Meter breit der Narva-Fluß — die Grenze zwischen Estland und Rußland. Über fünfzig russische Familien überqueren täglich, meist in kleinen Lastwagen, die über und über mit Hausrat beladen sind, die Brücke von Narva nach Ivangorod Richtung Rußland.

Etwa 500.000 der 1,6 Millionen Einwohner Estlands sind Russen. Sie leben vor allem in der Hauptstadt Tallinn und im stark industrialisierten Landkreis Ida-Virumaa im Nordosten. In den Städten Narva, Kohtla- Järve und Sillamäe, in denen mehr als die Hälfte der estnischen Industrieerzeugnisse dieser Region produziert werden, leben über 90 Prozent Russen. Noch im letzten Jahr, als Estland unabhängig wurde, waren sie privilegiert. Heute sind sie unerwünschte Ausländer und gelten für viele Esten als eine Bedrohung ihrer Selbständigkeit.

Gründe dafür gibt es tatsächlich. Schon einige Male hat die russische Regierung Warnungen an die Esten gerichtet, ihre Landsleute „anständig“ zu behandeln. So kündigte das russische Parlament vor zehn Tagen sogar Wirtschaftssanktionen an und forderte eine UNO-Vollversammlung. Anderenfalls wolle man selbst für den Schutz der russischen Bevölkerung sorgen. Daß die Drohungen nicht nur leere Worte sind, beweist allein der Fakt, daß noch etwa 70.000 Soldaten der russischen Armee (ehemals Rote Armee) in Estland stationiert sind. Die genauen Zahlen sind unbekannt, da die Militärbasen selbst für die estnische Regierung Tabuzonen sind. Diese fordert zwar, daß die Einheiten bis Ende des Jahres abgezogen werden. Doch das russische Militär will frühestens in zehn Jahren gehen und zudem die Halbinsel Paldiski mit ihren zwei maroden Reaktoren und ihrem Atom-U-Boot- Stützpunkt behalten.

So ist die Zukunft des jungen estnischen Staates nach wie vor unsicher. Und gerade das macht anfällig für die Flucht nach vorn, für Nationalismus und für den kurzen Prozeß mit Minderheiten.

Estland ist auf russische Fachleute angewiesen

Die Regierung unter Präsident Arnold Rüütel hätte es jedenfalls am liebsten, wenn alle Russen, Ukrainer oder Weißrussen das Land verließen. Doch die meisten „Ausländer“ sind in Estland geboren, haben hier ihre Eltern begraben und ihre Kinder zur Welt gebracht.

Auch der „Rote Baron“ und seine Familie möchten unbedingt bleiben. Nikolai Kutaschow ist Generaldirektor des Chemiekombinats „Slanzechim“ in Kohtla-Järve. 15 Prozent, des in Estland geförderten Ölschiefers werden hier verarbeitet. „Roter Baron“ wird Kutaschow von der estnischen Presse genannt — rot, weil er Russe und ehemaliger Kommunist ist; Baron, weil er ein Monopol hat. Alles, was mit Petrochemie zu tun hat, kommt in Estland aus seinem Kombinat. Gleichzeitig ist das Kombinat auch der größte Umweltverschmutzer. Ein guter Grund für viele Esten, mißtrauisch zu sein.

Anderseits kann Estland noch nicht auf die industriellen Grundstoffe, die in „Slanzechim“ produziert werden, verzichten. Auch auf die russischen Fachleute ist das Land angewiesen — nur sie können die Anlagen bedienen. „Die Esten brauchen unsere Arbeit, und gleichzeitig wollen sie uns loswerden. Sie müssen sich entscheiden“, sagt Nikolai Kutaschow. Ohne die „russischen Fabriken“, so Kutaschow, die für den Markt der ehemaligen Sowjetunion produzieren, würde die estnische Wirtschaft zusammenbrechen.

Bis vor kurzem war das auch kein großes Problem. Alle Einwohner Estlands hatten zwei Staatsbürgerschaften — die sowjetische und die estnische. Doch die Sowjetunion gibt es längst nicht mehr, und die neue estnische Staatsbürgerschaft erhielten nur die Esten automatisch. Russen, die heute in Estland leben und meist kein Estnisch sprechen, sind praktisch staatenlos. Denn nur wer weder der sowjetischen Polizei noch Armee angehörte und dazu die Landessprache beherrscht, hat Aussicht auf Einbürgerung oder gar die estnische Staatsangehörigkeit.

Als Quasi-Kolonialisten kamen die Russen bisher recht gut über die Runden, auch ohne estnisch zu sprechen. Für sie gab es russische Schulen, Theater und Universitäten. Die selbstherrliche Imperialistenmentalität wird ihnen nun zum Verhängnis. Besonders nach dem Referendum am 28.Juni ist ihre Lage prekär geworden. Abgestimmt haben alle Einwohner Estlands, deren Vorfahren bereits vor 1940 im Lande gewohnt haben — etwa zwei Drittel. Nicht in diese Kategorie fallen 450.000 Russen, außerdem Weißrussen und Ukrainer, die erst nach 1945 von der UdSSR-Regierung angesiedelt wurden.

Russen haben keine Stimme bei den Wahlen

Die überwältigende Mehrheit von ihnen, hatte bereits vor dem Referendum einen Antrag auf estnische Staatsbürgerschaft gestellt. Hunderttausend Russen gaben in Estland seinerzeit auch ihre Stimme für die Unabhängigkeit des Landes von der UdSSR ab. Trotzdem fiel das Ergebnis des Referendums für sie denkbar schlecht aus. Auf die Frage, ob die etwa dreißig Prozent Einwohner, die Anträge auf Staatsbürgerschaft gestellt haben, an den ersten demokratischen Wahlen im Herbst teilnehmen dürfen, antworteten 53 Prozent der WählerInnen mit Nein.

Keine Staatsbürgerschaft, kein Wahlrecht für die meisten Russen: das ist gleichbedeutend mit der Vernichtung jeglicher Existenzgrundlage. Denn nur Staatsbürger dürfen Unternehmen gründen und erhalten dafür Kredite vom Staat. Nur Staatsbürger können Arbeitsplatz und Wohnung frei wählen. Ein mehr als ungünstiger Start für die Russen in die Marktwirtschaft. So machen sich Unruhe und Resignation breit. Wer kann, zieht weg, vor allem gut ausgebildete Spezialisten. Andere wieder können und wollen nicht gehen. So beenden in Narva diesen Sommer etwa 2.000 junge russische Männer die Schule. Sie werden arbeitslos sein. Noch vor einem Jahr wären sie zur Armee gegangen. Die ist inzwischen estnisch. Dienst in der russischen Armee können sie auch nicht absolvieren, denn sie leben ja in Estland. Nun gut, könnte man sagen, auf den Armeedienst kann man verzichten. Doch Arbeit bekommen die jungen Russen auf keinen Fall, ohne zuvor Armeedienst abgeleistet zu haben.

Im riesigen Elektrokraftwerk „Pribaltisk“ nicht weit von Narva, das ganz Estland mit Strom aus heimischen Ölschiefer versorgt, sind die russischen Arbeiter wiederholt in Bummelstreik getreten. Sie drohen, den Streik kontinuierlich auszuweiten, wenn ihre Forderungen nach politischer Gleichberechtigung nicht erfüllt werden. Estnische Fachleute für das Kraftwerk gibt es nicht.

Als Kompromiß fordern die Russen eine begrenzte Autonomie der Nordostregion. Die Esten weigern sich, da sie Abspaltung und den Anschluß an das alte Imperium befürchten. Estland zieht seine moralische Rechtfertigung aus der Geschichte, Rußland aus der Gegenwart. Ineinander verschlungen, erpressen sich Esten und Russen nun gegenseitig. Ein Überleben können sie sich nur noch gegeneinander vorstellen.

Unter Mitarbeit von Barbara Kerneck