Auf der Suche nach Kampnagel

■ Gelände und Hallen der Kulturfabrik am Goldbekkanal bergen über 100 Jahre Stadtgeschichte. Zeugnisse längst vergangenen Arbeitslebens finden sich noch überall. Der Hamburger Autor Michael Batz macht...

. Zeugnisse längst vergangenen Arbeitslebens finden sich noch überall. Der Hamburger Autor Michael Batz macht daraus eine neue Kampnagelproduktion.

Kampnagel, einst Hamburgs bekannteste Kran- und inzwischen berühmteste Kulturfabrik, dämmert den großen Theaterereignissen, die hier ab Mitte August beim Sommertheater über die Bühne gehen sollen, entgegen. Im grünen Winkel des Geländes an der Barmbeker Straße, die vor 100 Jahren im Sommer eine kühle und im Winter eine geradezu finstere Ulmenallee war, wiegen sich noch heute einige dieser seltener werdenden Bäume im Wind. An dieser lauschigen Ecke steht am heißesten Tag des Jahres 1992 der Hamburger Dramaturg und Theaterautor Michael Batz und beginnt während eines Spaziergangs über die giftige Erde von seinem neuen Theaterprojekt zu erzählen.

Seit der ersten „Besetzungsprobe“ freier Hamburger Theatergruppen 1983 gestaltet Michael Batz das künstlerische Leben auf Kampnagel mit. So hat ihn der Blick aus seinem Fenster im Verwaltungsgebäude auf eine Unterkunft für Asylsuchende zu dem Theaterstück „Südwindhaus“ inspiriert. Das Südwindhaus auf Kampnagel wird gerade abgerissen, Wohnungen sollen statt dessen entstehen. Das Gebäude, das bis vor kurzem noch als neue Heimat für Menschen aus aller Welt diente, ist ein zäher Brocken. Seit Wochen sind die Abbrucharbeiter damit beschäftigt, die massive Konstruktion Stück für Stück zu zerschlagen. Die Abrißbirne war zu weich.

Michael Batz hat damit angefangen, die Geschichte Kampnagels, dieses Stückchens Stadt, zu erforschen, um daraus ein Theaterstück zu machen. Sein Produktionsprinzip ist dabei „ganz einfach die Kampnagel-Ästhetik“, eine Ästhetik, „die Bezug zu dem Material, das hier rumliegt, und zu den Gegebenheiten und der Geschichte des Geländes hat“.

Dem erst elfjährigen Leben der internationalen Kulturfabrik ging ein Jahrhundert Industriegeschichte voraus, das auch ein Jahrhundert der nachhaltigen Verseuchung des Bodens war. Das Gift steht nun den Plänen aus den 80er Jahren im Wege, die Wohnungsbau auf dem gesamten Gelände vorsahen. Diese Pläne liegen zunächst noch auf Eis, das Gift könnte zum Rettungsanker für die Kunst werden.

Wir aber, Michael Batz, der Fotograf und die Reporterin, machen uns in der Hitze auf die Suche nach Fundstücken, nach Fossilien der industriellen Entwicklung und Zeugnissen aus den verschiedenen Daseinszuständen einer Fabrik. Dabei findet sich sogar schon abgelegte moderne Kunst, die hier zwischen- oder endgelagert wird. Unter den Ulmen im grünen Winkel stehen die Reste einer Performance in Form von vier Türen herum. Blickt man durch sie in etwas hinein oder heraus? Kein Werk für die Ewigkeit: Spielende Kinder und Bastelfreunde, Wind und Wetter sorgen für die allmähliche Demontage der ursprünglich einmal fünftürigen Installation. Nicht weit davon liegt eine in ihre Einzelteile zerlegte Plastik Ulrich Rückriems herum, Brennnesseln überwuchern den Steinhaufen, der ehemals ein Kunstwerk war. Kampnagel ist im vergangenen Jahrzehnt ein Ort des Entstehens und Vergehens, ein Abenteuerspielplatz für Kunstschaffende unterschiedlichster Disziplinen geworden. Im rauhen Charme der alten Gebäude entstand eine Reibung, aus der wieder Funken schlugen, kreative Funken.

Begonnen hatte alles 1874, als die feuchte Alsterwiese an der Barmbeker Straße trockengelegt war. Die Ingenieure Nagel und Kaemp konnten das erste Verwaltungsgebäude ihrer neuen Firma beziehen. Das verkehrsgünstig am Goldbekkanal gelegene Gebiet war im Boom der Gründerjahre des ausklingenden 19. Jahrhunderts für Großes verplant. In den 80er Jahren bauten Nagel und Kaemp ihren Betrieb weiter aus und spezialisierten sich auf die Herstellung von Hafenkränen. Eine dreischiffige Halle wurde errichtet, in der sich nach den strikten Regeln wissenschaftlicher Betriebsführung, die die Arbeiter zu berechenbaren Teilen der Produktion degradierten, Dreherei, Schlosserei und Montage aneinanderreihten. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, als bereits 12000 Quadratmeter des Geländes bebaut waren, stand hier Willi Bredel an der Drehbank, bekam als organisierter Arbeiter Ärger mit der Firmenleitung und hinterließ seine Erfahrungen in dem Roman „Maschinenfabrik N & K“. In Kriegszeiten entwickelte sich Kampnagel, wie der Betrieb schließlich hieß, zum Rüstungsbetrieb, in dem Zwangsarbeiter aus Osteuropa verbraucht wurden. Und nah des grünen Kampnagelwinkels liegt auch jene Halle 29, die zu den Baracken gehörte, in denen vor Kriegsende polnische Zwangsarbeiterinnen unter unmenschlichsten Bedingungen Kerzen aus Stearin ziehen mußten.

Auf diese Halle hat inzwischen das kommunale Alabama-Kino einen begehrlichen Blick geworfen. Doch über eine solche Ausweitung des künstlerischen Angebots der internationalen Kulturfabrik streiten sich noch die Kulturbehörde und das Bezirksamt.

Am heißesten Tag 1992 liegt Kampnagel, wo schließlich die Firma Still bis 1979 Gabelstapler herstellte, mitsamt seiner langen Geschichte zwar dösend in der Sonne, doch überall bewegt sich etwas. Direkt am Goldbekkanal steht eine 100 Meter lange Halle, ein profaner Kathedralenbau, der in den letzten zehn Jahren zur Fundushalle des deutschen Schauspielhauses wurde. Hinter einem Zaun gesichert lehnen in der einen Hälfte der Halle Requisiten und Bühnenbilder aneinander, Kuhköpfe und Riesenvögel starren vom Balkon auf das bizarre Stilleben verlebter Theatermomente. Auf der anderen Seite des riesigen Raumes stapelt sich Gerümpel aller Art. Sportboote mit und ohne Kabine liegen in Pfützen von Regenwasser, das durch das undichte Hallendach einsickerte. Hier hat sich in der Sommerpause ein Techniker des Schauspielhauses etwas Platz gemacht, um an seinem alten Mercedes zu schweißen. Ein Klavierkonzert plärrt dazu aus einem Kofferradio, durch die halbblinden Fenster fällt der eine oder andere Sonnenstrahl. Ist da etwa noch jemand? Ach nein, nur eine Skulptur von Stephan Balkenhol, ein hölzerner Herr in weißem Hemd neben einem alten Traktor. Ein Knie ist wie zum Transport mit Schaumgummi umwickelt — bestellt? Nicht abgeholt? Das Werk drängt sich nicht auf, und ist doch an seinem zufälligen Ausstellungsort nicht zu übersehen.

Unter einem Fenster hängt die Werksuhr, darüber die Sirene, die zu den Pausen und Schichtwechseln heulte. Halb vier Uhr zeigt der quadratisch-funktionelle Chronometer. Vermutlich blieb er 1979, als die Firma Still den Betrieb einstellte und 1200 Menschen entlassen wurden, stehen. Im verglasten ehemaligen Aufsichtsbüro der Werkhalle haben alte Akten und Unterlagen des Schauspielhauses ihre vorerst letzte Ruhestätte gefunden. Ein Karton ist unter dem Gewicht vergilbter Gastspielverträge und Krankenbescheinigungen gerissen, und das ehemals Erhebliche quillt über den verstaubten Boden.

Auf der Suche nach weiteren Geistern und Zeugnissen steigen wir hinab in das Kellergewölbe der Fundushalle, die als einziges der noch vorhandenen Gebäude unterkellert ist. „Den Bauch von Kampnagel“ nennt Michael Batz das kühle Gemäuer beinahe ehrfurchtsvoll. Wir drei Profis der Archäologie haben natürlich keine Taschenlampe dabei, doch immerhin gibt es hier unter den niedrigen Decken etwas Seitenlicht von den längst glaslosen Fenstern, die einen Blick auf den glitzernden Goldbekkanal gewähren. Manchmal ist es allerdings auch völlig finster, und beim geduckten Vorwärtstasten erleuchtet nur das Blitzlicht Ausrisse aus dem Nichts. Unübersichtlich zieht sich das Gewirr der Gänge hin, schwere Metalltüren mit mächtigen Riegeln stehen offen. Wir gehen durch ehemalige Luftschutzbunker. In den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs, so hat Michael Batz von Zeitzeugen erfahren, gaben hier Schauspieler Vorstellungen gegen die Angst.

An giftig schillernden Lachen vorbei und über Mittelgebirge von Tauben-

1dreck gelangen wir zu einem zerborstenen Fenster. Der Schauspieler Michael Schönborn winkte eines Abends 1986 von hier aus in seiner Rolle als letzter Gefangener im Kampnagelspektakel „Amazonasfahrt“ den vorbeiziehenden Booten der weißen Alsterflotte hinterher. Auch an einem lichten Sommertag wie diesem halten die Gewölbe dazu an, sich von Verlassenheitsgefühlen überfluten zu lassen.

Da stoßen wir auf das ehemalige Reich des Meister Gollmer, dem Herrn der Elektrowinden, wie ein Türschildchen verrät. Über vereinzelt herumliegende Windenteile sind wir schon im ganzen Keller gestolpert. Die Maschinenteile sind zu schwer, um sie mit den Händen bewegen zu können, und man fragt sich, ob Meister Gollmer die Kräfte eines Supermanns besessen hat, um hier Ordnung halten zu können.

Eine andere Entdeckung ist das Helm-Magazin. Wie in panikartiger Flucht zurückgelassen liegen die Schutzhelme durcheinandergetrudelt in den Regalen, unter einer dicken Dreckschicht ist noch matt das Blau des Hartplastiks zu erkennen. Auch solche Fundsachen kann sich Michael Batz als

1Requisiten für sein entstehendes Stück vorstellen. Lassen wir sie einfach im Dreck liegen — vielleicht sehen wir sie ja im Frühjahr auf der Bühne wieder.

Nach dem Ausflug in die Unterwelt blendet das Tageslicht. Ein Päuschen empfiehlt sich beim ehemaligen Anleger hinter der Fundushalle. Einige Wohnwagen stehen auf dem idyllischen Fleckchen am Kanal, Blumenkästen und städtisches Grün beruhigen das Auge, und Parkbänke laden zum Verweilen ein. Die Kabarettistin Lisa Politt, soeben von einer Gastspielreise aus Irland zurückgekehrt, schnappt gerade etwas frische Luft und stößt Michael Batz eingedenk gemeinsam organisierter Spektakel in die Seite: „Weißt Du noch, wie wir damals den Elch gemacht haben?“ Die Wohnwagen stammen noch aus einer Zeit, da freie Gruppen das Kampnagelgelände „menschlich bestücken“ wollten, um durch ihre Anwesenheit die Wahrnehmung des stets gefährdeten Ortes der Künste zu sensibilisieren, erinnert sich Michael Batz. Jetzt übernachtet nur noch gelegentlich ein Techniker hier, und in den kommenden Wochen sind die rollenden Heime Künstlerquartiere für Gäste.

Ein Gewitter bricht los, und wir fliehen das luftige Plätzchen. Schließlich gibt es noch die größte und schönste Kampnagelhalle zu entdecken, die sich direkt an Halle 6 anschließt. Ihre gewaltigen Ausmaße und die gigantische Höhe wecken wie eine gotische Kathedrale beim Betrachter den Eindruck, daß er selbst nur zu den allerkleinsten Geschöpfen gehört. An dieser Größe lassen sich auch die Ideen der Erbauer noch erkennen, die mit wissenschaftlicher Präzision und ungehemmtem Raubbau an der Natur ihren großindustriellen Vorstellungen huldigten. Um diese wahrlich beeindruckende Halle zu renovieren ist allerdings kein Geld vorhanden, deshalb ist sie wegen Baufälligkeit aus Sicherheitsgründen gesperrt. Bühnenbilder, Holz und Gerümpel wird hier aufbewahrt, und einige provisorische Umkleidekabinen, eingerichtet für die gelegentlich hier gastierenden Akteure der Hamburgischen Staatsoper, stehen verlassen im Raum.

1989 tobte sich während des Sommertheaters hier noch die katalanische Kanalratten-Theatertruppe „Fura dels Baus“, die unlängst die Ehre hatten, die olympischen Spiele von Barcelona eröffnen zu dürfen, mit einem fulminanten Spektakel aus. Doch jetzt fungiert das Prachtstück nur noch als Lagerraum und als „Hinterzimmer“ der derzeit größten Kampnagelbühne in Halle 6. Womit wir wieder bei Michael Batz' Theaterprojekt angelangt sind. Denn hier, in beiden Hallen, soll im Frühjahr des kommenden Jahres seine Hommage an Kampnagel und die Menschen, die hier lebten und arbeiteten, künstlerische Wirklichkeit werden. Julia Kossmann

Michael Batz sucht noch Menschen, die Erinnerungen an ihre Arbeit auf Kampnagel haben, von Ereignissen und Erlebnissen berichten wollen. Wer was zu erzählen hat, bitte melden unter:

040-436714 oder 2709490