Missionar in eigener Sache

■ In der Kulturbrauerei las Günter Grass einmal mehr aus seinen »Unkenrufen«. Er blieb hier ganz ungestört unter seinesgleichen

Günter Grass haßt die Kritik. Die im Feuilleton sowieso. Deswegen hatte er ja auch die Rezensionsexemplare seines neuesten Buches »Unkenrufe« erst versenden lassen, als es bereits im Handel erhältlich war. Er habe »gemerkt, daß Literaturkritik eher eine Verhinderung ist«, sagte er im Februar nach der ersten öffentlichen Lesung aus dieser Erzählung, und: »Ich glaube, daß der direkte Weg vom Autor über das Buch zum Leser der richtige ist.« Da sich aber diese »Verhinderung« nicht verhindern läßt (auch die taz berichtete am 7. Mai), wendet sich Grass an die Basis, die er meint, und tourt nun mit seinen »Unkenrufen« als Lese-Missionar in eigener Sache durch die Säle.

Gern liest er in Berlin und besonders gern aus dem vierten Kapitel. Aber Kritik verabscheut er auch aus unprofessionellem Munde. Wenn sich unliebsame Fragen von Lesern, Noch-nicht-Lesern oder Bestimmt- nie-Lesern an seinen Vortrag anschließen, dann wird er ganz spitz, vermutet heimtückische Einflüsse der sogenannten Großkritik und schimpft einmal mehr darüber, daß sein Geburtsland Polen in der letzten Zeit »zwei Päpste hervorgebracht hat, die sich für unfehlbar halten«: Johannes Paul II. und Marcel Reich- Ranicki.

Am vergangenen Dienstag im Kesselhaus der Kulturbrauerei gab das Publikum Günter Grass keinen Grund zur Klage (weswegen er auf das Bonmot über die zwei Päpste aber doch nicht verzichten mochte). Es kam massenhaft und drängte sich auch noch auf den Holzbänken im Hof, wohin die Lesung per Lautsprecher übertragen wurde. Nach der eher feindseligen Stimmung im vergangenen Monat in einer Friedenauer Buchhandlung war es hier, wie es nach Autorensinn sein sollte: sie liebten ihn, und er liebte sie. Da brauchte er weder sein Glas Rotwein, noch die Pfeife danach, da gab er freimütig Antwort über Entstehung und Hintergründe der »Unkenrufe«, dieser Geschichte einer deutsch-polnischen Friedhofsgesellschaft.

Nachdem klar war, daß alle im Saal R.-R. ebenfalls hassen, erklärte Grass dann beispielsweise, daß die Sprache seiner Protagonistin Alexandra, die als Polin im Deutschen die Artikel wegläßt, keineswegs, wie im »Literarischen Quartett« behauptet, primitiv sei, sondern »dringlich und dinglich«. Woher in seinem Text die »saftige Dichte in der Realität des Kleinkrams« komme, wollte eine Leserin wissen. Eine andere dankte für das »frauliche Monument« im »Butt« und fragte, ob die dort angegebenen Kochrezepte authentisch seien.

»Ich bin Pole, ich find's gut«, lobte ein Dritter. Und Günter Grass taute spürbar auf in solcher Gemeinde und gab bereitwillig auch die politischen Auskünfte, die alle von ihm zu hören erwarteten: Ost-Schelte (»Wer dreimal dieser Regierung Glauben schenkt, verdient es nicht anders«), Parteienschelte (»Die Besitzverhältnisse in den neuen Bundesländern sind zugunsten des Westens geregelt, das habe ich schon auf dem SPD-Parteitag gesagt«) und Kulturschelte (»Was heute Fügung genannt wird, war zu Zeiten der beginnenden Aufklärung Aberglaube«) — alles in allem: Unkenrufe.

Wie gut, daß es solche aufrechten Kämpfer gibt, die sich als Künstler auch politisch in den Dienst der nach Massen stelllen, die nach klaren Worten dürsten! Schade nur, daß ich am harmonischen Dienstagabend plötzlich daran denken mußte, wie Grass einen nach Ausdruck ringenden kritischen Frager in Friedenau angeschnauzt hatte: »Ich weiß nicht, was Sie unter Liebe verstehen, und ich will es auch gar nicht wissen.« Der richtige Weg zu seinen Lesern ist für Günter Grass wohl eindeutig immer noch die Einbahnstraße. Petra Kohse