KOMMENTAR
: Die Jagd ist zu Ende — was bleibt, ist Bitterkeit und Scham

■ Nicht Honecker wird angeklagt, sondern 40 Jahre Ossi-Leben und die deutsche Niederlage

Erich Honecker hat dem Volk, das er beherrschte, in all den Jahren nichts erspart, nicht einmal diese erbärmliche Heimkehr. Nun, da ihn keiner mehr haben will, fährt er zurück — in der Pose des unbesiegten Kämpfers mit erhobener Faust. Jene Fäuste, die man ihm in Berlin zum Empfang entgegenhielt, sieht der unverbesserliche Wiebelskirchner Optimist schon als erstes Zeichen erwachenden revolutionären Masenbewußtseins. „Der Befreiungsschlag ist schon in Vorbereitung“, wird er sich versichert haben, „bald werden meine Zuchthausmauern fallen, und unter Schalmeienklängen trägt man mich zur Macht zurück.“ Solcherart ist sein Niveau. Wir haben das hier oft genug erfahren, und es graust uns wieder einmal vor diesem eitlen, alten Ignoranten wie dem bevorstehenden Prozeß gegen ihn. Denn nicht der Mann mit dem Panamahut wird angeklagt sein. Vierzig Jahre Ossi-Leben kommen vor Gericht und natürlich die deutsche Niederlage 1945. Wenn man schon einen Krieg verliert, dann jedenfalls nicht so.

„Wie konntet ihr euch denn von solchen Kreaturen unterjochen lassen?“ Schon heute die unausgesprochene, aber immer häufiger gestellte Frage der Wessis an die Ossis. Auf dem Prozeß wird sie dann jeden Tag zu hören sein. Gegenfragen aber sind vor jenem Honecker-Gericht nicht erlaubt. „Wie konntet ihr mit Globke leben, mit Oberländer, den SS-Führern und all den fürchterlichen Juristen, von denen noch heute eine stattliche Zahl ihre dicke Pension verzehrt. Es graust einem vor dem alten, schlimmen Mann, noch mehr aber vor dem scheinheiligen Eifer, mit dem er gejagt wurde. Als ob die Menschen im Osten nicht andere Sorgen hätten.

Immer wieder wurde als Begründung für die große Jagd auf die Mauerschützen hingewiesen. Die Ärmsten müssen geradestehen, und ihr oberster Dienstherr nicht. Jede Mutter, deren Sohn einst in der NVA dienen mußte, hat nun Angst, daß auch er, aus welchen Gründen auch immer, scharf auf jene beweglichen und flüchtigen Ziele geschossen hat. Und wieder mal ein Ruhmesblatt fürs Bundesrecht. Weder beim Millionenmörder Eichmann noch beim Menschenfresser Mengele hielt es ein deutscher Justizminister für nötig, die Auslieferung zu verlangen. Nicht ein einziger wirtschaftlicher oder politischer Hebel wurde dafür in Bewegung gesetzt. Bei Erich Honecker dagegen alle. Irgendwann stand dieser Mann schließlich einmal links. Und genau mit dieser Seite hat die deutsche Justiz seit Urbeginn Probleme.

Und noch etwas läßt erschauern: die neue Geschichtsklitterung. Also ob dieser Honecker zu irgendeinem Zeitpunkt, sieht man von den letzten wenigen Gorbatschow-Jahren einmal ab, eine Alternative hatte. Im Osten Deutschlands hat die Siegermacht Sowjetunion, genauso wie ihre Alliierten im Westen des geteilten Landes, ein Regime installiert, das ihr zupaß kam. Jedes, auch nur das geringste Abweichen von der Linie hätte Honecker oder andere, wie oft genug geschehen, unweigerlich in den Orkus befördert. Sein miserabler Charakter, seine Liebedienerei und eitle Großmannsucht, die er auf dem Rücken des Volkes austrug, stehen auf einem andern Blatt. Justitiabel sind sie nicht.

Erschreckend und gewiß nicht ohne historische Folgen auch die fast archaische Unterwürfigkeit der Jelzin-Regierung, den einstigen bedingungslosen Befehlsvollstrecker, Verbündeten und Ehrenbürger vieler russischer Städte dem Klassenerzfeind auszuliefern. Was bleibt? Bitterkeit und Scham bei unzähligen Menschen über diesen Heimkehrer und über das eigene und immer aufs neue deformierte Leben. Doch jene so häufig in den Medien konstatierte freudige Genugtuung der Menschen im Osten, des Bösewichts nun habhaft zu sein, ist ausgeblieben. Es bleibt die Erinnerung an einen Mann, der irgendwann einmal Ideale hatte, für die er elf Jahre hinter Gittern saß, für die er auch bereit war, zu sterben, die er aber verriet, als ihm dafür Macht geboten wurde.

Einer der stalinistischen Huldigungsrufe lautete: „Lebe ewig!“ Bleibt zu wünschen, daß ihm und uns solches erspart bleibt. Henning Pawel, Erfurt