taz-Debatte
: Freispruch durch die Geschichte?

■ Rudolf Bahro und die "historische Legitimität" der DDR

Einer fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: „Ich rate dir, nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden: Du brauchst einen Gott.“

Ähnlich wie in Brechts Keunergeschichte verhält es sich mit der Frage, ob es eine Rechtfertigung des SED-Staates gibt. Ironie der Geschichte: Noch unter jenen, die sie einstmals als Dissidenten inhaftierte und schließlich ausspuckte, gibt es Leute, bei denen das sang- und klanglose Verschwinden der Deutschen Demokratischen Republik anhaltenden Trennungsschmerz verursacht. Das muß etwas mit den Ungleichzeitigkeiten der noch immer recht vertrackten deutsch-deutschen Einheitslage zu tun haben. Kommt jetzt, nachdem der Aufruf „Für unser Land“ längst echolos verklungen ist, der nachgetragene Weltschmerz „um unser Land“? Niemand soll sich selbst aus der Geschichte dieses Landes entlassen, ganz gleich, welche Form des Mitmachens und schweigenden Komplizentums sie oder ihn trifft. Doch dieses Fortwirken der DDR hat nichts, aber auch gar nichts mit der Frage gemein, ob die Arbeiter- und Bauernfirma der SED samt Stasi und alledem „historisch legitim“ war.

Kritiker aus dem Gehäuse der SED waren rar: Sie trafen daher bei der undogmatischen Linken der alten Bundesrepublik auf wohlwollendes, nicht ganz uneigennütziges Interesse. Denn bürgten nicht gerade die Ausgebürgerten für die Hoffnung, es möge zwischen dem Elend namens DKP und dem namens „Geht doch rüber!“ ein Drittes geben? Rudolf Bahro hat in der letzten Ausgabe der Wochenzeitung Freitag das Hohelied auf die „Legitimität der DDR“ angestimmt: „Wenn Erich heimkommt“. Die Strophen seines Lobgesangs handeln von der „lange überfälligen, aber nachträglich alles andere als überflüssigen geistigen Anerkennung der DDR“.

Kernstück von Bahros Argumentation ist die These von der „ganz unzweifelhaften historischen Legitimität“ der DDR. Wie das? Am Anfang der DDR stehen Luxemburg und Liebknecht. Von da führt „die Hauptlinie der Verteidigung, Honeckers und meiner“, über den „Widerstand gegen den Ersten Weltkrieg“ zur „Gründung der KPD“ und deren späteren Widerstand gegen Hitler. Das sind bekannte Gründungsmythen der DDR-Geschichte, derer sich auch die SED befleißigte. Auf dem Thron der Traditions-Herleiterei sitzt bzw. steht indes die Rote Armee mit ihrem „größten und opferreichsten Heereszug aller Zeiten“. Bahro weiß sehr wohl, eingedenk der „massenhaft gar nicht vorhandenen deutschen revolutionären Kontinuität“: erst „mit dem Oderübergang“ dieser Armee hob die „eigentliche Begründung“ der DDR an.

Hier also liegt deren Legitimität begraben: „Wenn die rote Fahne auf dem Reichstag 1945 legitim war, dann hat die DDR nicht nur sein dürfen, sondern sein müssen.“ Wer aber wollte der Anti-Hitler-Koalition (in der, nebenbei gesagt, z.B. auch die angelsächsischen Armeen kämpften) ihre politisch-moralische Rechtfertigung absprechen? Die nicht gerade originelle Formel „Hitler plus unconditional surrender = DDR“ geht nicht auf. Denn allein auf der Negativfolie der nationalsozialistischen Verbrechen gründet niemand einen Staat, baut niemand eine zerrüttete Gesellschaft politisch und ökonomisch wieder auf. Welche Reaktion der Siegermächte wäre angesichts der singulären Verbrechen der Nazi-Gesellschaft eigentlich nicht „legitim“ gewesen? Der Morgenthau-Plan und ein immergrünes, Ackerbau und Viehzucht betreibenden Deutschland? Oder die Atombombe auf Hiroshima und Berlin?

Aber die Reformsozialisten, wie Bahro angesichts der Niederwalzung des Prager Frühlings einer wurde? Geben sie nichts her zur „geistigen Anerkennung“ des SED-Staates? Auch dieser Reminiszenz folgt sogleich die Rücknahme: Selbst „das Wunder Gorbatschow“ wäre in Ostdeutschland für die Katz gewesen: „Wir hätten die DDR auch damit nicht halten können.“ Hier schließt sich der Kreis, ist der fahrige Gedanke an seinen Ausgangspunkt zurückgekehrt: buchstäblich nichts mehr ging in diesem Staat, bei aller Beschwörung seiner historischen Wurzeln. Bahro sieht all das ein, irgendwie. Warum dann aber diese geradezu vernarrte Anhänglichkeit an das totgeborene SED-Unternehmen? Haßliebe bindet.

Schon die Historisierung von Legitimität ist bezeichnend. „Historisch“ legitim ist schlicht alles, was sich einer mit seiner Geschichtsphilosophie als objektiv notwendigen Lauf der Dinge zusammenreimt. Einerlei, ob dem die Leute im Weg stehen. Die alles entscheidende Legitimitationsquelle politischer Herrschaft, eine durch das Volk beschlossene demokratische Verfassung, spielt in diesem Denken keine grundlegende Rolle. Dabei ist die Sache mit der demokratischen Legitimität gar nicht so schwer. Sie erwächst aus freien Wahlen, Mehrparteiensystem, ungehemmter Meinungs- und Pressefreiheit und ein paar anderen demokratischen Spielregeln. Gemessen an diesen Standards, kam der DDR zu keiner Zeit ihrer Existenz Legitimität zu. Das freilich macht doch die Reform der DDR um so unverzichtbarer, würde Bahro sagen. Aber, herrjeh, was tun die Massen der untergehenden DDR? Sie jagen nicht nur die Spätstalinisten zum Teufel, sondern verschmähen obendrein die wirklich gutgemeinte „Alternative“ des besseren Sozialismus und wenden sich dem schnöden Materialismus der westlichen Zivilisation zu. Konsumidioten! Verblendete! Ma-ni-pu-lier-te! Seid Ihr noch zu retten!

In solchen Ressentiments trifft sich das anti- bis vordemokratische Bewußtsein der Ost- mit dem der Westlinken. Letzterer waren demokratische Prozeduren als solche nie sonderlich teuer. Vor allem dann, wenn „falsche“ Ergebnisse den revolutionären Schwung bremsten, wuchs die Indifferenz gegenüber dem bloßem Parlamentarismus. Da wären wir freilich wieder beim entscheidenden Legitimitätskriterium: Noch die notorischen Gebrechen und Krisen des „Parteienstaats“, seine Selbstbedienungsauswüchse, das ganze demokratische Elend des Kartells, der verbrauchten Gründungsparteien/West ist gar nichts gegen die öde Herrschaft der einen und einzig wahren Staats- und Monopolpartei/ Ost und ihrer Blockflöten. „30 Jahre DDR — Ich bin glücklich!“: dieser staatlich verordnete Button aus dem Jubeljahr 1979 sagt mehr über die Verfassung des SED-Staates als alles um Legitimation ringende Geschwafel. Am Ende wird bleiben — nichts Nennenswertes: eben „das gescheiterte Experiment eines implantierten Sozialismus auf deutschem Boden“.

Alles in allem: eine nachgerade verschmockte Litanei und, bei allem Respekt vor dem Autor der Alternative, ein Dokument der politischen Desorientierung, aus dem der Brei des verwundeten Herzens quillt — sprunghaft in der zerstreuten Argumentation, garniert mit persönlich integren Bekenntnissen (so dem Stoßseufzer „Endlich!“ zum Mauerbau). Am Ende beschleicht einen der traurige Gedanke, da habe einer seine besten politischen Jahre in der DDR gehabt. Und sich nun, da sie entschlief, auf die trostlose Suche nach der Wiedergründung dieses verlorenen, real-surrealistischen Gebildes begeben. „Erich“, im Geltungsbereich des Grundgesetzes gelandet, mag zu seiner Rechtfertigung vieles unternehmen, eins aber wird der ehemalige Generalsekretär der ehemaligen SED und ehemalige Staatsratsvorsitzende bestimmt nicht tun: jenen, die an die Legitimität der DDR glauben wollen, die Bürde dieses Glaubens abnehmen.

Ob ihm seine Stasi-Spitzel jene Honecker-Witze zutragen durften, die volkseigener Humor ersann? Vielleicht fällt ihm der von der „Legitimität“ ein: Eines Tages kehrt er von einer Auslandsreise heim und durchquert mit seiner Staatskarosse eine vollständig entvölkerte Republikhauptstadt — bis er endlich auf seinem Schreibtisch einen winzigen Notizzettel findet: „Grüß Dich, Erich — der Letzte macht das Licht aus!“ Gar nicht so schlecht die Pointe, daß dieses Volk am Ende, statt vollzählig auszuwandern, ein bißchen Revolution gemacht hat und sich eine neue Regierung wählte. Horst Meier

Jurist und Autor, lebt in Hamburg