Wo liegt beim Abbau der sozialen Leistungen die Schmerzgrenze?

HEISSER HERBSTI NB E R L I N Wo liegt beim Abbau der sozialen Leistungen die Schmerzgrenze?

André Emanuel, 33 Jahre, Kalkulator

Die Errungenschaften der Gewerkschaften aus den letzten Jahrzehnten werden einfach abgebaut. Die Unternehmer nutzen die Gunst der Stunde, zusammen mit der Schwäche der Linksparteien und dem Hochgefühl der Wiedervereinigung. Ich habe das Gefühl, daß man als Ottonormalverbraucher immer nur in die Röhre guckt. Den Unternehmen werden trotz der enormen Gewinne der letzten Jahre Steuergeschenke gemacht. Wenn ich da an die Rentner denke, deren Realeinkommen immer weiter fällt, finde ich die Verteilung der Lasten ungerecht. Der gordische Knoten der Probleme kann und darf nicht einseitig gelöst werden.

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer belastet mal wieder die Einkommensschwachen. Gerade denen müßte doch unter die Arme gegriffen werden. Versprochen wurde vor der Wahl doch etwas ganz anderes. Es waren doch gar keine Steuererhöhungen geplant. Darüber kann man schon böse sein.Über die Politiker ärgere ich mich schon seit langem. Deswegen gehe ich auch nicht mehr wählen. Den Versuch, die Karenztage abzuschaffen, empfinde ich als Rückschritt. Und gerade in Berlin merkt man das Wegfallen der Zulage schon. Zusammen mit dem Solidarbeitrag machte das ungefähr 70 DM aus.

Weitere Belastungen der Arbeitnehmer würde ich ablehnen. Die Schmerzgrenze ist erreicht, aber ich habe nicht den Eindruck, als ob das gehört wird. Wenn ich an die Karenztage denke, wird mir ganz schlecht. Ich kenne auf dem Bau keinen, der krankfeiert. Vielleicht haben das die Angestellten in den Büros gemacht. Das Streichen der Berlinzulage ist eine Sauerei. Die Beamten im öffentlichen Dienst, die aus Bonn nach Berlin kommen, kriegen aber den Honig um den Bart geschmiert. Ich habe keine Lust mehr, den kleinen Multis, Ärzten und Rechtsanwälten das Geld in den Rachen zu schmeißen.

Es liegt an der schlechten Politik, die seit der Wende in Deutschland gemacht wird, daß die sozialen Leistungen immer mehr abgebaut werden. So langsam habe ich das Gefühl, wir schleichen uns wieder in's 18. Jahrhundert zurück. Darum haben die Menschen doch gekämpft, daß es ihnen besser geht und sie mehr Urlaub haben. Es trifft immer nur die Normalverdiener und nicht die, die an den Futtertrögen sitzen. Und man muß nicht glauben, daß die Leute das nicht merken. Daß die Leute streiken, glaube ich nicht. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Jeder kämpft darum, seinen Job behalten zu können.

Mir persönlich geht es ganz gut, auch wenn die Stimmung in den neuen Bundesländern nicht die beste ist. Ich glaube, daß der befürchtete Abbau der Sozialleistungen und die Mehrbelastung der Bevölkerung eher ein Thema im Westen ist. Hier im Osten haben die Leute in erster Linie Angst um ihren Arbeitsplatz, dann erst machen sie sich Gedanken über eventuell gestrichene Karenztage. Es müßte noch eine ganze Menge mehr geschehen, bevor ich auf die Straße gehen würde. Wenn ich zum Beispiel 500 DM weniger verdienen würde, und ich keinen Kindergartenplatz für mein Kind bekäme. Umfrage: Ralf Knüfer

Fotos: Eric-Jan Ouwerkerk