Anrufung der Schriftsteller

■ »Literatur im Umbruch«: Endler, Ortheil und Wagner lasen zum Thema

Es ist eben so, schon aus Tradition: Wenn die Dinge aus den Fugen sind, das Volk murrt und nicht fügsam zusammenwuchern will, wenn alles nicht so läuft, wie es soll — dann muß die Literatur ran. Veranstalter denken sich tönende Titel aus, nach deren Vorgabe geladene Schriftgelehrte sich dann den Kopf zerbrechen und nach Möglichkeit sogar die ein oder andere Lösung ausbaldowern dürfen. Übersetzer sollen sie sein im Weltenlatein, die Armen, und das auch noch in volkstümlichem Deutsch. Denn, so der freundliche Herr vom »Forschungsprojekt Kommunikation zur Förderung der Friedensfähigkeit« am Donnerstag in den gepflegten Räumlichkeiten des Literarischen Kolloquiums am Wannsee: Die abstrakte Sprache der Soziologie erreiche zwar die »Köpfe« der Menschen, »nicht aber deren Herz«.

Verständlich, daß man sich da als Literat nicht allzu wohl fühlt in seiner Haut und im Sessel tiefer sinkt. »Literatur im Umbruch — Reaktionen auf aktuelle politische Veränderungen« — eigentlich ein vermessener Titel, gab Moderator Stephan Lohr vom Norddeutschen Rundfunk zu bedenken, bevor er das Wort an Adolf Endler, Hanns-Josef Ortheil und Richard Wagner weiterreichte. Auflösung der Blöcke, aufbrechende Nationalismen — Kriege, nicht bloß Krisen, mitten in Europa, wie soll da der Schriftsteller mit seiner bescheidenen Text-Manufaktur das Blatt zum Besseren wenden? Aber zum Glück war im Kleingedruckten noch hinzugefügt: »mit den Mitteln der Fiktion«. Das klang schon besser, war man doch mit einem Mal wieder auf dem Feld von Produktionsweisen und Schreibsituationen, quasi unter sich und damit halbwegs aus dem Schneider.

Ein wenig enttäuscht war das sich mählich ausdünnende Publikum allerdings schon, daß so viel gelesen wurde an diesem Donnerstag abend. Endler, »der proletarische Villon« (Spiegel), der 1955 aus Westdeutschland in die DDR übersiedelte (um dann 79 aus dem dortigen Schriftstellerverband rauszufliegen), trug unter dem Arbeitstitel »Orte ohne IM« Tagebuchnotizen aus den Jahren 82 bis 92 vor, die er mit traumrealistischen Passagen unterlegte: Begegnungen mit Eltern, Freunden, Stasi, alles auf der Bühne einer Welt, die vom Universum verschluckt wird wie eine »heiße lepröse Kartoffel«. Ortheil, neben Hubert Winkels und Klaus Modick einer der feuilletonistischen Jung-Stars an der Schnittstelle zwischen Forschung und »Fiktion«, las das erste Kapitel aus seinem demnächst erscheinenden Roman »Abschied von den Kriegsteilnehmern« — eine autobiographische Vergewisserung, der die Umwälzungen in der Tschechoslowakei von 89/90 zum Reflexionsanlaß dienen. Am hermetischsten und gleichzeitig überzeugendsten der rumäniendeutsche Richard Wagner mit seinen vordergründig banalen Geschichten, »kunstlos« erzählt, keunerhaft und meist ohne erkennbare Pointe.

Der Abend — ein einziges Rückzugsgefecht von der überdimensionalen Vorgabe. Das Kleinteilige, Dokumentarische, das Autobiographische und autobiographisch Verfremdete — mehr wollen unsere überforderten Literaten zur Zeit offenbar nicht in die Waagschale werfen. Bei Endler hat es den Beigeschmack von Karneval, beginnt am Prenzlauer Berg und endet im »onomatologischen Fasching»; bei Wagner versteckt es sich in Verarbeitungen von Zeitungsmeldungen und Alltagsgeschichten, während Ortheil auf die bewährten Mittel des Siebziger-Jahre-Autobiographismus zu setzen scheint: Befindlichkeit, die sich, nach eigenem Bekunden, sachte »durch die Geschichte mäandert«. Man setzt auf Formbewußtsein, nicht auf Aussage, und tauscht sich darüber aus. »Werkstattgespräche«, hätte man es früher genannt.

Am Ende hatte das sichtlich enttäuschte Auditorium im Hause am Sandwerder — so oder so — seine Lektion gelernt. Die Literaten — sie mögen nicht predigen. Sie wollen kein Sinnbedürfnis befriedigen, das durch keine Aussicht auf akute Besserung gedeckt ist. Ja, sie finden es nicht einmal besonders gut, wenn einer der ihren, namentlich Vaclav Havel, in die Politik abwandert; heißt es doch einerseits, daß er fürs Schreiben verloren ist, zum anderen wirft es ein Schlaglicht auf den desolaten Zustand der politischen Klasse des Landes. »Es ist einfach keiner da, der es besser machen könnte«, wie Richard Wagner trocken (und wahrscheinlich nicht unzutreffend) bemerkte.

Wagner war es auch, der an diesem Abend als einziger die schwelende Selbstbescheidung der Literatur bereits literarisch formuliert hatte. In seiner Prosa-Skizze »Der Mann, der sich über den Zusammenhang von Literatur und Politik äußern sollte« läßt selbiger Mann alle Ansprüche auf Unmittelbarkeit stoisch an sich abprallen — und schreibt. Nach getaner Arbeit lehnt er sich in seinem Sessel zurück, »zufrieden mit der Ratlosigkeit, die er spürte«. Thomas Groß