Schlaflose Nächte

Peter Stein inszeniert Shakespeares „Julius Cäsar“ und Andrzej Wajda Wyspianskis „Das Hochzeitsfest“ bei den Salzburger Festspielen  ■ Von Dieter Bandhauer

Mit Peter Stein soll das Sprechtheater bei den Salzburger Festspielen wieder jenen Stellenwert bekommen, den es einst zu Zeiten Max Reinhardts innegehabt habe. Eigentümlich daran ist bloß, daß den legendären Zeiten — und die liegen nicht so weit zurück —, in denen Thomas Bernhards Stücke im Salzburger Landestheater uraufgeführt wurden, offensichtich noch keine vergleichbare Bedeutung zugemessen wird.

So laßt uns also — bis wir eine Hintertür in Bernhards Testament entdeckt haben — bei Max Reinhardt anknüpfen und in jener Felsenreitschule Platz nehmen, in der bereits vor auch nicht allzu langer Zeit Klaus-Michael Grüber mit Peter Handkes Übertragung von Aischylos' „Prometheus gefesselt“ nicht gerade den größten seiner Triumphe gefeiert hat.

Die Felswand mit den in drei Reihen übereinander angeordneten Arkaden ist wahrlich beeindruckend, der Einfall des Tageslichts durch das geöffnete Schiebedach erhöht den Reiz jener Naturkulisse, der Dionissis Fotopoulos nur eine flache Marmortreppe hinzubaute. Und wenn sich für die Nachtszenen des „Julius Cäsar“ das Schiebedach schließt, dann wird es bei dieser Nachtmittagsaufführung ganz natürlich finster. Mit Fackeln in den Händen irren die Schauspieler über die cinemascope-breite Bühne, ihr Mienenspiel wird durch das flackernde Licht grotesk verzerrt.

Brutus und die anderen Verschwörer schließen in dieser Nacht kein Auge. Die Sorge um die durch Cäsars Alleinherrschaftsanspruch bedrohte republikanische Verfassung, eigenes Machtstreben und eine in Aufruhr geratene Wetterlage, die bei Shakespeare immer das tragische Weltgeschehen vorwegnimmt, läßt die Männer nicht ruhen. Im Garten des Brutus beschließen sie die Ermordung von Julius Cäsar.

Thomas Holzmann als skrupulöser Brutus, Hans Michael Rehberg als skrupelloser Cassius, Martin Benrath in der Nebenrolle des Cäsar und alle andern tun, was sie können, um in der Weite der Felsenreitschule subtile, differenzierte Töne zu finden und doch verständlich zu bleiben. All dies aber mutet an wie ein sportliches Unternehmen, das einzig das Ziel vor Augen hat, den Kampf gegen die akustischen Schwierigkeiten dieses Raums zu gewinnen. So verdient Peter Steins Inszenierung eine Eintragung ins Buch der Rekorde, nicht aber ins Buch der Regiewunder.

Rekordverdächtig ist auch die Zahl der immer wieder auf die Bühne getriebenen Komparsen, die mit roten Bändern und blauen Schals die Manipulierbarkeit der Massen, den Wankelmut des Volkes darzustellen haben — doch bei all den gekonnten Arrangements letztlich nur eines zeigen: Theater der repräsentativen Art.

Zum Ereignis aber wurde die berühmte „Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann“-Rede des Marc Anton. Gert Voss' Kunst läßt den Gedanken vergessen, daß Shakespeare, indem er die allzu schnelle Verführbarkeit des Volkes zeigt, eben jenes Volk allzu voreilig denunziert habe; Voss' Rhetorik hätte selbst die Verschwörer, wären sie anwesend gewesen, das Lager wechseln lassen — auch in Anbetracht der von Marc Anton beabsichtigten Folgen: „Unheil, du bist im Zuge: Nimm, welchen Lauf du willst!“

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Im Vergleich ist es in Stanislaw Wyspianskis Drama ein vorerst ungefährlicher Anlaß, der die Menschen dazu bringt, sich die Nächte um die Ohren zu schlagen: nämlich jenes dem Stück den Titel gebende Fest, in dem die Hochzeit zwischen einem Poeten aus der Stadt und einer Bäuerin mit ausgelassenem Tanz und viel Alkohol gefeiert wird. In einer eigenwilligen Kunstsprache, mit Reim und schnell hinkendem Versmaß, werden in kurzen Szenen Stadt und Land sowie unterschiedliche soziale Schichten durcheinandergemischt. Doch das folkloristische Bild einer bunten Hochzeitsgesellschaft wird im zweiten Akt durch das geheimnisvolle Auftauchen von unerwarteten Gästen — Figuren aus der Sagenwelt oder der polnischen Geschichte wie dem Strohmann oder dem Schwarzen Ritter — in ein schwarzes Märchen verwandelt, das jedoch in Wajdas Regie seltsam harmlos bleibt.

Durch das Erscheinen von Wernyhora, einem legendären Wahrsager aus dem 18.Jahrhundert, der den Gastgeber auffordert, die Hochzeitsgesellschaft (im Jahr 1900) zum nationalen Aufstand aufzurufen, um die Dreiteilung Polens zu beenden, bekommt Wyspianskis Drama jene Bedeutung, die es zum Inbegriff des polnischen Nationaldramas werden ließ. Am nächsten Morgen aber weiß der Gastgeber vorerst von nichts mehr. Langsam kehrt seine Erinnerung zurück, doch die mit Sensen bewaffneten, übernächtigen Festgäste stürmen nicht hinaus zur nationalen Tat, sondern versinken stumm und ergriffen zu einer Andachtsgruppe, deren pathetische Lethargie lediglich in einen dumpfen Hochzeitsreigen mündet.

Weder den Schauspielern — wenn auch kein Staraufgebot wie im „Julius Cäsar“ — noch der Regie Wajdas ist es letztlich anzukreiden, daß auch mit dieser Salzburger Aufführung des in neuer Übersetzung von Karl Dedecius vorliegenden „Hochzeitsfestes“ kein überzeugendes Argument vorgebracht wurde, warum dieses Drama die Spielpläne außerhalb Polens erobern soll. Vielleicht ist doch Witold Gombrowicz' Urteil zuzustimmen: „Im Ausland scheitert dieses Drama nicht deshalb, weil es polnisch war; sondern weil es vom Gesichtspunkt der ganzen Menschheit nichts Neues brachte.“