Leichenbestatterinnen in Auschwitz

■ Jüdische Frauen wurden zur bürokratischen Bewältigung der Mordmaschinerie gezwungen

Die Mörder führten Buch. Peinlich genau und fein säuberlich legten sie Karteien an, stellten Sterbeurkunden aus, schrieben Todesmeldungen. Den Mord an den Lagerinsassen von Auschwitz galt es verwaltungsmäßig als gewöhnlichen Todesfall abzulegen. Eines natürlichen Todes starb niemand in dem Vernichtungslager. In den Anfängen von Auschwitz erledigten SS-Männer die anfallende Büroarbeit in der sogenannten Politischen Abteilung. Diese Abteilung erfaßte zum Beispiel die Neuzugänge, verwahrte die Häftlingsakten, führte Karteien, nahm Vernehmungen vor, fahndete nach flüchtigen Häftlingen, bespitzelte die Lagerinsassen, registrierte die Todesfälle, verwaltete die Krematorien, behandelte die eingelieferten Häftlinge erkennungsdienstlich. Aufgrund steigender Häftlingszahlen und vermehrter Todesfälle kam die SS mit der Arbeit nicht mehr nach. Sie bildete das Kommando Politische Abteilung/Standesamt und zwang Häftlinge, ihr bei der Verwaltung des Todes zu Diensten zu sein. Zunächst waren es nur Männer, seit Frühjahr 1942 vermehrt Frauen, ausschließlich Jüdinnen. Einer dieser Frauen, Lore Weinberg (verheiratete Shelley), in Lübbecke/Westfalen geboren, nach Auschwitz deportiert, 1956 in die USA emigriert, ist es gelungen, viele ihrer Lagerkameradinnen ausfindig zu machen und dazu zu bewegen, über ihre Tätigkeit zu berichten. Von den 68 Jüdinnen, die im Kommando arbeiten mußten, haben 53 überlebt, etwa 20 von ihnen konnte Lore Shelley dafür gewinnen, Zeugnis abzulegen. Die Frauen fanden die Kraft und überwanden sich, faßten in Worte, was unaussprechlich ist. Andere Überlebende sahen sich außerstande, das Erlittene auszusprechen, andere konnten von der Herausgeberin nicht gefunden werden, andere waren verstorben. Neben den Frauen kommen vier polnische Häftlinge zu Wort, die auch in der Politischen Abteilung arbeiten mußten.

Die „Schreiberinnen des Todes“ stellten unter anderem Sterbeurkunden aus. Als Todesursachen mußten sie auf Befehl Krankheiten eintragen, die die Opfer niemals gehabt hatten. Es ging der SS darum, den massenhaften Mord geheimzuhalten. Die Lagerverwaltung verschickte gar Kondolenzbriefe und bot den Hinterbliebenen „arischer“ Häftlinge eine Urne mit den angeblichen Überresten der Ermordeten an.

Nicht selten stießen die „Leichenbestatterinnen“ auf die Unterlagen ihrer Familienangehörigen. Von der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, dem Ehemann waren nur mehr eine Karte oder eine Todesmeldung übriggeblieben. Ohne eine Regung zeigen zu dürfen, mußte die Karte des Opfers aus der Kartei der lebenden Häftlinge aussortiert und in die der toten eingeordnet werden. Kein Wort des Schmerzes, kein Zeichen der Trauer wurde den Frauen gestattet. Über die „sonderbehandelten“ Nächsten mußten sie Stillschweigen bewahren, ihre Toten zu beklagen war ihnen strikt verwehrt. Die Arbeit in der deutschen Todesbürokratie war gleichwohl ein gutes Kommando. Die Lagerinsassinnen hatten ein Dach über dem Kopf und bessere Unterkünfte. Fron unter freiem Himmel, in Kälte und Hitze, in Schmutz und Schlamm, Unterbringung in den überfüllten Blöcken und Baracken von Birkenau blieben ihnen erspart. Manchmal protegierten die SS-Männer ihre „Maschinenschreiberinnen“. Sie wollten auf ihre Fachkräfte nicht verzichten und bewahrten sie vor dem drohenden Tod. Die Frauen waren sich dennoch immer im klaren darüber, daß sie als Geheimnisträgerinnen nicht überleben durften. Immer wieder erinnerten sie ihre Henker daran, daß sie Tote auf Urlaub seien, sie eines Tages durch den Kamin müßten. Nicht umsonst wurde die Schar der für den Tod Bestimmten „Himmelfahrtskommando“ genannt.

Die seelischen Qualen, die die Frauen bei der täglichen Verwaltung des Todes litten, lassen sich nicht ermessen. Nicht nur schrieben sie Sterbeurkunden, Todesmeldungen und Beileidsschreiben an die Angehörigen „arischer“ Häftlinge, sie mußten auch den grausamen Folterungen beiwohnen, mußten dolmetschen und Vernehmungsprotokolle abfassen. Sie waren gezwungen, mit zu den Krematorien zu gehen und die Vergasten anhand ihrer eintätowierten Nummer zu registrieren. Eine Überlebende fand in der Gaskammer ihren Vater. Sie notierte seine Nummer, denn die Karte des Häftlings mußte in der Registratur mit dem Vermerk „Sonderbehandlung“ in die Kartei der Toten aufgenommen, das einzuäschernde Opfer später in das Krematoriumsbuch eingetragen werden.

Dem Übersetzer des 1986 in den USA erschienenen Buches hätte man mehr Selbständigkeit der Vorlage gegenüber gewünscht. Die schlichte Übernahme der knappen Bibliographie der amerikanischen Ausgabe ist vollkommen ungenügend. Gleichwohl ist Verlag und Übersetzer für die deutsche Ausgabe dieser wichtigen Dokumentation zu danken. Da unser Wissen niemals hinreichend ist, uns Auschwitz verstehend annähern zu können, kann jedes Buch, jedes Zeugnis dazu beitragen, unserer Unwissenheit abzuhelfen. Werner Renz

„Schreiberinnen des Todes · Lebenserinnerungen internierter jüdischer Frauen, die in der Verwaltung des Vernichtungslagers Auschwitz arbeiten mußten“. Dokumentation von Lore Shelley. AJZ Verlag 1992, 384 S., 49 DM