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Sozialamt: Ohne Schulden kein Geld

■ Antragsteller soll Dispo-Kredit ausschöpfen, bevor er Sozialhilfe bekommt / Sozialbehörde: "Merkwürdige Anweisung"

, bevor er Sozialhilfe bekommt / Sozialbehörde: »Merkwürdige Anweisung«

Hamburgs Sozialämter werden bei ihrer restriktiven Vorgehensweise gegen Sozialhilfebedürftige immer frecher: Das Sozialamt Hamburg-Mitte hat jüngst von einem Antragsteller verlangt, er solle erst teure Kredite in Anspruch nehmen, bevor er Sozialhilfe erwarten könne. Eine Sprecherin der Erwerbsloseninitiativen: „Wir dachten zuerst an einen schlechten Scherz, doch das Ganze entpuppte sich als bittere Realität.“

Der in Not geratene Mann hatte im Juni zur Finanzierung seines Lebensunterhalts beim zuständigen Sozialamt einen Sozialhilfeantrag gestellt. Bei einer Überprüfung wurde er vom zuständigen Sachbearbeiter aufgefordert, Unterlagen über seine finanzielle Situation sowie seine Kontoauszüge vorzulegen. Dabei stellte der Sachbearbeiter fest, daß die Bank dem Antragsteller einen Dispositionskredit eingeräumt hat. Der Haken bei der Sache: Diese Girokonto-Überziehungskredite werden jedoch mit 14,5 Prozent Zinsen überproportional belastet.

Dennoch war der „Dispo“ für das Sozialamt Grund genug, die Hilfebedürftigkeit des Antragstellers in Frage zu stellen. Das Sozialamt stellte zwar grundsätzlich fest, daß er eigentlich einen „theoretichen Sozialhilfebedarf von 203,13 Mark“ im Monat habe, dennoch sollte er von ihnen kein Geld bekommen. Die schriftliche Begründung: „Aus Ihren Unterlagen geht hervor, daß Sie bei Ihrer Bank einen Dispositionskredit von 2000 Mark eingeräumt bekommen haben. Da Sie verpflichtet sind, sich vorrangig selbst zu helfen, haben Sie vor Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen diesen voll auszuschöpfen.“ Im Klartext: Er sollte sich mit 2000 Mark verschulden. Damit müßte er sich aber auch der Gefahr aussetzen, daß die Bank den Kredit kündigt und das Geld auf einen Schlag zurückverlangt.

Der Mann hatte ohnehin schon 600 Mark aus diesem Kredit für seinen Lebensunterhalt abzweigen müssen — doch das Sozialamt teilte ihm mit: „Legt man Ihren Kontostand vom 1.7.92 zugrunde, dann können Sie mit dem errechneten Bedarf die nächsten sieben Monate auskommen.“

In der Sozialbehörde stößt das Vorgehen des Sozialamts jedoch auf „Unverständnis“. Sprecherin Brigitte Eberle: „Ein merkwürdiges Verhalten. Eine derartige Dienstanweisung gibt es nicht.“ Sie könne sich den Vorgang nur so erklären, daß es sich bei dem Antragsteller um eine zeitlich beschränkte Hilfebedürftigkeit handele. Sonst müsse man sich fragen, „was das für ein Schwachsinn sei“.

Die Erwerbsloseninitiativen werten diesen Fall als „ungeheuerlichen Versuch, auf dem Rücken von Hilfebedürftigen Einsparungen in der Sozialhilfe durchzusetzen“. So würden Menschen gezwungen, sich entweder hoch zu verschulden, und dies, obwohl im Regelsatz keine Mittel für Zinsen vorgesehen sind, oder bei Antragstellung das Girokonto aufzulösen. Eine Sprecherin: „Das kann weder im Sinne der Betroffenen noch der Sozialämter sein.“ Ihr Tip: Klage vorm Verwaltungsgericht. Kai von Appen

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