documenta9 — Spot2

■ Anish Kapoors „Descent into Limbo“ — Kunst zum Verschwinden

Spot ist eine taz-Serie zu einzelnen Arbeiten oder Künstler(innen) auf der documenta9 in Kassel. Bis zum 20.September.

Schräg gegenüber der neuen documenta-Halle, zur Karlsaue hin, stehen 22 Männer und Frauen in einer Reihe. Sie warten auf Einlaß in ein kleines graues Betonhaus. An öffentlichen Toiletten mangelt es nicht auf der Kasseler Ausstellung, selbst in Ilya Kabakovs WC- Kunsthaus kann man ohne zu warten eintreten. Was also verbirgt sich hinter der schmalen, ölig grau gestrichenen Eisentür, durch die immer nur je sechs Leute hineindürfen? Alle fünf bis acht Minuten öffnet sich die Tür. Ein strenger junger Mann winkt. Endlich sind wir drin.

Und da wären wir fast wirklich drin gewesen, im Loch nämlich. Nur aus Anstand haben wir uns nicht sofort auf die rätselhafte kreisrunde dunkle samtene Fläche gestürzt, die dem Auge aus der Mitte des Bodens entgegenspringt. Was Anish Kapoor, der in London lebende Inder (Jahrgang 1954), in Kassel geschaffen hat, ist ein physischer Schock; erst als ein Zweifelnder in die Knie geht und seine Hand hineinsteckt, besteht kein Zweifel mehr: Die Fläche ist ein Loch.

Der Raum ist quadratisch, etwa fünf mal fünf Meter. Die Decke, wie die Wände aus Beton, ist etwas knapper ausgelegt als der Boden; sie ist so eingehängt, daß an den Rändern Tageslicht einfällt. Am unteren Bodenrand verläuft eine kleine Kerbe als Regenrinne. Alle Flächen des Raums sind beige-grau getüncht, auch der Eisenboden. In ihn ist als magisches Zentrum das Loch eingelassen, mit einem Durchmesser von vielleicht anderthalb Metern, das man sich zunächst als Öffnung zu einem darunterliegenden Kellergeschoß vorstellt. Erst im Katalog habe ich die Form der Vertiefung begriffen: eine im oberen Fünftel aufgeschnittene Kugel. Bestrichen hat Kapoor sie mit Pigment, in einer Farbe irgendwo zwischen zartestem Schwarz und Ultramarin. Man sieht keinen Pinselstrich und fühlt sich an Wolfgang Laibs Installationen aus Blütenstaub erinnert. Meine Begleiterin möchte mit dem Loch nicht allein sein, sie hätte Angst, darin zu verschwinden.

Schon länger arbeitet Kapoor mit Pigment und Stein. Mit der gleichen Beständigkeit, mit der die über 80jährige Louise Bourgeois phallische Formen in Stein und Holz haut, kerbt Kapoor Löcher und Schlitze. Dieses Mal hat er die Betrachter gleich mit eingelocht. Besser funktionieren würde das künstliche Gefängnis, wenn sich nicht in der Pigment-Tiefe schon Staubkörnchen abgelagert hätten, wenn die Aufsicht nicht Stuhl und Cola-Flasche bereitgestellt hätte, wenn es keine Tür gäbe, durch die wieder hinausgeschickt wird, viel zu schnell. Ina Hartwig