Abschied vom Atomtest

Mit dem neuen Atomteststopp-Beschluß des US-Senats sind die Chancen gewachsen, bis 1996 ein weltweites Ende aller Atomtests durchzusetzen. Doch das Militär in den USA und Rußland stellt sich noch quer  ■ VON JERRY SOMMER

Ein weiteres Relikt des Kalten Krieges ist dabei, vom Sockel gestürzt zu werden. Zum ersten Mal in der Geschichte hat sich der US-Senat am Montag für einen vollständigen Stopp von Atomwaffentests ausgesprochen. 68 der hundert Senatoren stimmten einem Gesetzentwurf zu, der folgendes vorsieht:

Zunächst sollen die US-Atomtests für mindestens neun Monate ausgesetzt werden. Anschließend sollen drei Jahre lang jährlich maximal fünf Atomtests erlaubt sein, von denen je vier der Verbesserung der Sicherheit und einer zur Überprüfung der Zuverlässigkeit der vorhandenen Atomwaffen dienen sollen. In dieser Zeit begrenzter Tests sollen mit den anderen Atommächten Verhandlungen über einen umfassenden Teststopp-Vertrag aufgenommen werden. Falls Rußland nicht weitere Atomversuche durchführt, würden die USA nach dem 30. September 1996 ebenfalls keine weiteren Tests vornehmen.

Hunderttausende Opfer

Diese Entssheidung des Senats wurde kurz vor dem Jahrestag des Abwurfs der ersten Uranbombe auf Hiroschima am 6. August 1945 getroffen. Der Abwurf von Little Mary — Kosename dieser Bombe — wird in der Auflistung des Energieministeriums als „Versuch“ geführt. Er tötete auf der Stelle über 100.000 Menschen. Es folgten drei Tage später der zweite Real-Test in Nagasaki mit 70.000 Sofortopfern — und danach bis heute fast 2.000 weitere Atomversuche. Ohne Tests wäre es den Atommächten USA, Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und China sowie Ländern wie Indien nicht möglich gewesen, Atomwaffen erst zu entwickeln und dann immer mehr, immer „bessere“ Sprengköpfe herzustellen.

Die Spätfolgen der „Tests“ von Hiroschima und Nagasaki töteten weitere Hunderttausende Menschen. Aber auch die folgenden, tatsächlichen Tests, die erst in der Atmosphäre, später nur noch unterirdisch gezündet wurden, waren nicht „gesund“: Nach Berechnungen der Vereinigung „Internationale Ärzte gegen den Atomkrieg“ wird die bei ihnen freigewordene Radioaktivität bis Ende des Jahrhunderts mindestens 430.000 tödliche Krebserkrankungen verursacht haben.

Nun scheint ein Ende in Sicht — nicht sofort, aber in einigen Jahren. Dies ist zu erwarten, obwohl das letzte Wort im gegenwärtigen US- Gesetzgebungsprozeß noch keineswegs gesprochen ist. Zum einen werden jetzt zwischen Senat und Repräsentantenhaus Verhandlungen um einen Ausgleich der unterschiedlichen Standpunkte beginnen. Das Repräsentantenhaus hatte sich ebenfalls — und im Unterschied zum Senat seit Jahren — für ein US-Moratorium und einen vollständigen Teststopp ausgesprochen. Doch der einflußreiche demokratische Senator Sam Nunn hat schon angekündigt, daß er bei den Verhandlungen Modifizierungen am Test-Beschluß, dem er im Senat trotz Kritik zugestimmt hat, erreichen will. Es könnte also sein, so schätzt Matthew Bunn von der „Arms Control Association“ in Washington, „daß der Senatsbeschluß noch abgeschwächt wird — sei es, daß das Moratorium verkürzt wird, sei es, daß die Zeit begrenzter Tests bis 1997 oder 1998 ausgedehnt wird“.

Zum anderen kann Präsident Bush nach diesen Verhandlungen immer noch sein Veto gegen die endgültige Teststopp-Resolution der beiden Kongreßhäuser einlegen. Verteidigungsminister Dick Cheney hat schon angekündigt, daß er dies dem Präsidenten vorschlagen werde. Ein präsidiales Veto könnte nur mit einer Zweidrittelmehrheit in Senat und Repräsentantenhaus überstimmt werden — was in letzterem sehr unwahrscheinlich ist.

Die Bush-Regierung hat ein vollständiges Testverbot bisher immer abgelehnt. „Solange unsere Sicherheit auf der nuklearen Abschreckung beruht“ — und das gelte für die vorhersehbare Zukunft — „solange müssen wir testen“, lautete die stereotype Antwort der Administration zum Beispiel noch im vergangenen Oktober, als der damalige sowjetische Präsident Gorbatschow erneut ein einjähriges Testmoratorium der UdSSR verkündete und die Amerikaner zur Nachahmung aufrief. Hintergrund der US-Ablehnung: Neue Sprengköpfe und neue „exotische“ Rüstungssysteme wie Laserwaffen waren und sind nur mit neuen Atomtests zu entwickeln. Auf solche Waffen meinte man in Washington nicht verzichten zu können.

Atomare „Zuverlässigkeit“

Inzwischen hat die US-Regierung ihre Argumentation gegen ein generelles Testverbot verlagert. Verteidigungsminister Cheney behauptet nun, ohne Tests sei „die Sicherheit und die Zuverlässigkeit der vorhandenen Atomwaffen nicht zu garantieren“. Im vergangenen Monat hat die Bush-Administration in einem Brief an den US-Senat sogar Selbstbeschränkungen ihres Test-Programms verkündet. Darin verspricht sie, in den kommenden fünf Jahren nur noch sechs Tests pro Jahr durchzuführen. Bei diesen Versuchen sollen, ebenfalls beschränkt auf die nächsten fünf Jahre, keine neuen Waffen entwickelt, sondern nur die Zuverlässigkeit alter Atomsprengköpfe überprüft werden. Um die Ernsthaftigkeit ihrer Absichten unter Beweis zu stellen, gab sie Ende Juli die Streichung eines ursprünglich geplanten geheimen Atomversuchs bekannt, der der Entwicklung von Röntgenlasern für das Weltraumwaffenprogramm SDI dienen sollte.

Das Ziel der Selbstbeschränkungsübung — die Verhinderung eines Teststopp-Beschlusses durch den Senat — hat die Regierung nun zwar verfehlt. Aber von ihrem einmal gemachten Versprechen dürfte sie kaum noch abrücken können.

Dabei ist das Hauptargument des Pentagons gegen ein generelles Atomtestverbot und für eine Fortsetzung der Tests bis in alle Ewigkeit — die Funktionsfähigkeit der Atomwaffen sei ohne Tests nicht zu gewährleisten — schwach. Zum einen stellt sich die Frage, wozu man denn heute die Atomwaffen „funktionsfähig“ halten will. Zum anderen diente nur ein sehr geringer Teil aller bisherigen Tests tatsächlich der Überprüfung vorhandener Arsenale. Mit den weitaus meisten wurden neue Waffen erprobt. Und selbst bei den wenigen Überprüfungstests ist in den vergangenen Jahrzehnten laut US-Experte Steve Fetter „nur einmal ein Problem durch einen Nuklearversuch entdeckt worden“.

Selbst ein Wissenschaftler wie J.Carson Mark, Ex-Abteilungsleiter im US-Atomwafenlabor von Los Alamos, meint: „Die Zuverlässigkeit, Effektivität und Sicherheit unseres Atomarsenals kann ohne nukleare Tests ausreichend gewährleistet werden.“ Diese Auffassung wird auch von den wissenschaftlichen Direktoren der beiden russischen Atomwaffenlabors, Juri Trutnev und Jewgeni Avroni, geteilt.

Militärisch unbedeutend

Daß der Abschied vom Nukleartest vielen schwer fällt, verwundert eigentlich nicht. Vielmehr belegt die Langsamkeit, wie sehr sich in vierzig Jahren nuklearen Rüstungswettlaufs Denkstrukturen und Interessenlagen verselbständigt haben. Obwohl Kalter Krieg und Wettrüsten der Vergangenheit angehören und tiefe Einschnitte in die Arsenale der beiden atomaren Supermächte vereinbart sind, können Politiker und Militärs von der Bombe nicht lassen.

Dabei hat nicht zuletzt der Golfkrieg gezeigt, daß die militärische Bedeutung von Atomwaffen gegen null tendiert. Weder haben sie Saddam Hussein vor seinem Angriff auf Kuwait und vom Widerstand gegen die US-geführte Koalition abgeschreckt, noch wurden sie von den drei am Krieg beteiligten Atommächten eingesetzt. Konventionelle „High-Tech“-Waffen waren viel wirkungsvoller.

Eine vergleichbare Langsamkeit ist bei allen Nuklearmächten festzustellen. Der für Atomtests zuständige russische Energieminister Viktor Michailow hält „zwei bis vier“ Atomexplosionen pro Jahr für notwendig, „um die Verteidigungsfähigkeit Rußlands zu gewährleisten“, falls nicht die USA mit ihren Tests ebenfalls aufhörten. Ohne Tests sei auch eine „Erosion“ des wissenschaftlichen Kenntnisstands seines Landes zu befürchten.

Russische Militärs wie manche Politiker haben bei einer Fortsetzung des einjährigen Gorbatschow-Moratoriums „Gefahren“ gesichtet: „Wenn eine Seite einen allzugroßen Vorsprung erlangt, könnte sie — eventuell auch unbeabsichtigt — ihre Kräfte ausprobieren und der anderen Seite etwas zu diktieren versuchen“, meint zum Beispiel Jewgeni Pudovkin, Jelzin-Anhänger und Mitglied des außenpolitischen Ausschusses des Obersten Sowjets von Rußland. Als ob Geld nicht ein weit besseres Mittel wäre als Atomwaffen, um dem kollabierenden Rußland etwas zu „diktieren“!

Präsident Boris Jelzin hat sich aber seinen an Atomtests hängenden Militärs schon im Februar gebeugt und die Anordnung getroffen, auf der Insel Nowaja Semlja im nördlichen Eismeer die Durchführung neuer Atomtests vorzubereiten. Nun wird Rußland, bevor es eventuell neue Atomtests durchführt, erst einmal das Gerangel in den USA zwischen Senat, Repräsentantenhaus und Präsident Bush sowie die US- Präsidentschaftswahlen im November abwarten. Denn Bush-Herausforderer Bill Clinton tritt ebenfalls für einen Atomteststopp, ähnlich wie ihn der Senatsbeschluß vorsieht, ein. Sollte sich diese Position in den USA durchsetzen, werden es die Testbefürworter des russischen Atomwaffen-Komplexes sicherlich schwerer haben, neue Tests durchzusetzen.

Ähnliche Schwierigkeiten kommen auf Frankreich zu. Dort hat Präsident Francois Mitterrand ein Ende dieses Jahres auslaufendes Testmoratorium verkündet und alle anderen Atommächte aufgefordert, einem umfassenden Teststopp-Vertrag zuzustimmen. Aber diese Initiative entsprang mehr der innenpolitischen Absicht, die bei den Kommunalwahlen im März erfolgreichen Grünen an seine Sozialistische Partei zu binden, als atomaren Einsichten.

Ebensowenig wie Rußland, China und Großbritannien — letzteres spricht als einzige Atommacht noch offen davon, Atomtests seien zur Überprüfung und Modernisierung des Atomwaffenpotentials notwendig — wird aber Frankreich eine Zustimmung zu einem Atomtestverbot umgehen können, wenn die USA sich endlich dazu durchringen.

Gefahr: Proliferation

Selbst wenn der jetzige Senatsbeschluß noch aufgeweicht wird und US-Präsident Bush gegen ein Teststopp-Gesetz erfolgreich sein Veto einlegt, ja selbst wenn Bush wiedergewählt werden sollte — ein umfassendes Atomtestverbot hat zumindest mittelfristig gute Erfolgschancen. Bei aller vorhandenen oder eingebildeten Machtkonkurrenz zwischen den USA und Rußland liegt die Hauptgefahr heute in der nuklearen Proliferation. Eine solche würde zwar durch einen Teststopp-Vertrag der Atommächte nicht unmöglich gemacht. Aber die politischen Bedingungen für Möchtegern-Atommächte, ihre Absichten auch durchzusetzen, würden erheblich schwerer sein.

Denn durch einen Teststopp der Atommächte würde der internationale Druck an Glaubwürdigkeit gewinnen, der auf Staaten mit nuklearen Ambitionen ausgeübt werden kann. Auch würde er Mißtrauen zwischen Atommächten und Entwicklungsländern beseitigen helfen. Der Weg wäre frei, um gemeinsam weit strengere Kontrollen von Atomanlagen und Sanktionen bei Zuwiderhandlungen gegen den Atomwaffenverzicht zu vereinbaren.

Ebenfalls ist dann eine unbefristete Verlängerung des 1995 auslaufenden Nichtweiterverbreitungsvertrages möglich, in dem sich die meisten Länder der Erde — außer den fünf Atommächten — verpflichten, auf Nuklearwaffen zu verzichten. Denn wenn die Atomtests fortgesetzt werden, so drohen einige Entwicklungsländer, würden sie dieses Abkommen nicht verlängern.

Es gäbe keine bessere Maßnahme, „die Verbreitung der nuklearen Geißel zu stoppen, als ein vollständiges Atomtestverbot“, argumentiert der ehemalige Abrüstungsbotschafter der USA, Gerard Smith. Diese Meinung gewinnt immer mehr Anhänger — in den USA wie auch in anderen Nato-Ländern. Noch vor 1995 ist deshalb mit weiteren Zugeständnissen oder gar einer Zustimmung selbst einer Bush-Administration zu einem vollständigen Atomteststopp zu rechnen.

Es könnte sicherlich noch schneller gehen, wenn sich auch die Nato- Verbündeten in dieser Sache stärker engagieren würden. Die norwegische Regierung hat zum Beispiel alle Atommächte aufgefordert, ihre Atomversuche einzustellen bzw. nicht wiederaufzunehmen. In Bonn sind zwar selbst Abgeordnete wie die FDP-Politiker Olaf Feldmann und Werner Hoyer von der Testmanie der Bush-Administration enttäuscht. Aber die Bundesregierung, die verbal ebenfalls für einen vollständigen Atomteststopp „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ eintritt, lehnt es ab, irgendwelche Initiativen zu ergreifen. „Ein drängendes Einwirken Bonns auf den Bündnispartner USA“ werde es in dieser Frage nicht geben, erklärte das Außenministerium. Begründung des Sprechers einer Regierung, die ansonsten gern von der „gewachsenen internationalen Verantwortung“ des wiedervereinigten Deutschlands spricht: Atomtests fänden ja nicht bei uns in Deutschland statt.