Rußlands Bauern im Arbeitskampf

Gewerkschaften organisierten „Tag der bäuerlichen Einheit“/ Reformen im Agrarsektor werden blockiert  ■ Aus Moskau K.H.Donath

Der August war in der UdSSR immer ein Monat der Ernteschlachten. Ob der Ertrag nun gut oder schlecht ausgefallen war, das spielte keine Rolle: An dieser Front wurde grundsätzlich „gekämpft“. Strukturdefizite des Agrarsektors machten den Einsatz von Studenten und Soldaten unumgänglich, sollte das Korn noch in genießbarem Zustand eingefahren werden. In diesem Jahr lassen sich billige Arbeitskräfte nicht mehr mobilisieren, dafür machen die Landarbeiter jetzt selbst mobil. Mit Warnstreiks und Demonstrationen vor den Kreis- und Bezirksorganen forderten sie gestern eine Preiserhöhung für landwirtschaftliche Produkte und Kompensationsleistungen, die die gestiegenen Kosten für Energie und Industriegüter auffangen. Unter dem Motto „Tag der bäuerlichen Einheit“ wurde aus der „Ernteschlacht“ ein „Preisgefecht“, wie die Zeitung Iswestija schrieb.

Die diesjährige Ernte ist gut ausgefallen. Sie sei zwar keine Rekordernte, aber auf keinen Fall schlechter als im vergangenen Jahr, und sie wird sogar eingefahren. Nur: Kolchosniki und Sowchosniki weigern sich, das Korn an staatliche Stellen auszuliefern. Im südrussischen Kreis Stawropol, der Heimat Gorbatschows, wurden drei Millionen Tonnen geerntet, aber nur 300.000 Tonnen verkauft, rund ein Fünftel der vorher vertraglich vereinbarten Menge. Noch immer regelt eine staatliche Planbehörde den Ankauf des Getreides. Die Situation in Stawropol ist für das gesamte Rußland charakteristisch: Die Bauern verkaufen ihre Produkte nicht trotz noch gültiger Verträge, denn sie wissen, daß kaum einer sie zur Verantwortung ziehen wird. Schließlich braucht man kein Geld, sondern Brot aus dem Dorf.

Vertreter der alten Gewerkschaften und „Verteidiger landwirtschaftlicher Interessen“ auf Kabinettsebene nutzten diese Gelegenheit, um aus dem Unmut der Bauern politisches Kapital zu schlagen, schrieb die reformfreundliche Iswestija. In erster Linie ginge es den Bauern nicht um den Verkaufspreis, sondern um eine angemessene „Indexierung“, die die ständig steigenden Energiekosten decke. Noch vor der Aussaat im März hatten sich die vertreter der Agrarier gegen eine Erhöhung der Benzinpreise zur Wehr gesetzt. Damals hatte sich Vizepräsident Alexander Rutskoi für die Interessen des Agrarsektors stark gemacht. Indirekt lancierte er damit eine Attacke gegen Präsident Jelzin, dessen Reformen er für übereilt hielt. Rutskoi gilt seit langem als Schlüsselfigur der Opposition innerhalb der Regierung. Hinter dem ehemaligen Kampfflieger sammeln sich neben national-patriotischen Kräften auch die einflußreichen Vertreter des „industriellen Komplexes“, denen an einer raschen Privatisierung wenig gelegen ist. Ihrem Drängen mußte Jelzin im Frühsommer nachgeben und sie mit drei Ministerposten bei der letzten Kabinettsumbildung bedenken. Um Rutskoi an der Leine zu halten, hatte Jelzin seinen Gegenspieler in diesem Frühjahr noch zum Sonderbeauftragten der Landreform gemacht. Eine herkuleische Aufgabe, mit der im vormaligen Sowjetreich ausgediente Spitzenfunktionäre betraut wurden, bevor man sie aufs Altenteil abschob. Rutskoi brachte die Reformen nicht voran. Ohnehin könne dies erst im Herbst beginnen, hielt er seinen Kritikern entgegen. Noch im Juli blieb er gegenüber den Forderungen der Gewerkschaft der Landarbeiter hart.

Auf der Sitzung des „Erntestabes“ im Kreml malte der Vizepräsident gestern ein düsteres Bild. Nur etwa drei Prozent des bestellten Getreides sei geliefert worden, bei allen anderen landwirtschaftlichen Produkten sähe es ähnlich katastrophal aus. Allein verantwortlich hierfür seien eine ganze Reihe von Ministerien und Institutionen, die ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen seien. Er drohte an, die Schuldigen dingfest zu machen. Vergessen hatte er anscheinend, daß er seit fünf Monaten selbst in der Verantwortung steht. Die Schwierigkeiten des Agrarkomplexes lassen sich allerdings auch durch Preiserhöhungen und Kompensationsleistungen nicht beseitigen. Verarbeitende Industrien sollen gelegentlich schon die Annahme der Lieferungen verweigern, weil sie ihre Waren nicht mehr absetzen können. Das liegt allein an der geschwundenen Kaufkraft de geschundenen russischen Verbrauchers. Versuche der Bauern in Stawropol, ihr Getreide für den dreifachen Preis über die Börse loszuschalgen, sind gescheitert. So wird das Getreide, bevor es verrottet, wohl doch noch in die Fabriken gelangen.