„Wahrscheinlich lebt in Zvornik kein einziger Moslem mehr“

■ Berichte von geflüchteten Familien aus den bosnischen Städten Zvornik und Gorazde: „Der Fluß Drina ist voll von Blut und Leichen“

Familie aus Zvornik; Ehefrau: Am 8. April, morgens um halb neun haben die Serben angefangen, Zvornik zu bombardieren. Die Stadt liegt an der Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Serbien. Der Fluß Drina ist die Grenze. 15 Tage vor Beginn des Krieges haben die Serben ihre Familien evakuiert. So konnten sie die Stadt bombardieren, ohne ihre eigenen Leute zu gefährden.

Während des Bombardements haben sich die Menschen im Keller versteckt. Wir haben es nicht wahrhaben wollen, das der Krieg da ist. Vom 8. bis zum 12. waren wir im Keller. Am 12. sind wir abgehauen. Auf der Straße lagen Leichen. Wir hatten keine Zukunft, keine Papiere. Wir wollten unsere Kinder und unsere Haut retten. Wir sind zu einem Onkel nach Novi Sad geflüchtet, in der serbischen Wojewodina, die früher autonom war. Nach ein paar Tagen bin ich nach Hause zurück und habe Pässe für die ganze Familie beantragt. Meinen Mann haben sie zu der Zeit schon gesucht. Überall an den Bäumen hingen Steckbriefe. Nach zehn Tagen hatte ich die Pässe und bin wieder zurück nach Novi Sad.

Dort waren wir zuerst sicher, weil die Serben die Leute in ihrer Heimat nicht töten wollen. Zwanzig Tage später aber wurde es für uns auch in Novi Sad gefährlich, und wir mußten weiter fliehen. Meine Mutter kam und sagte: Die ganze Familie wird gesucht. Und dann haben wir uns nach Salzburg durchgeschlagen.

Als ich in Zvornik auf die Pässe wartete, habe ich gesehen, wie ein Bagger auf dem mohammedanischen Friedhof ein Loch grub. Unsere Wohnung ist in der Nähe des Friedhofs. Dann kamen jeden Tag Laster voller Leichen, die ins Loch gekippt wurden. Eine Mutter hat ihren toten Sohn auf dem Laster gesehen. In Zvornik gibt es wahrscheinlich keinen einzigen Muslim mehr. Der Fluß Drina ist von Leichen voll, das Wasser ist rot von Blut.

Ehemann: Als wir die ersten Tage in Novi Sad waren, haben wir mit meiner Mutter telefoniert, die in Zvornik geblieben war. Sie hat erzählt, daß die Serben die muslimischen Männer aufgerufen haben, sich zu melden, um arbeiten zu können. Das war fünf Tage nach Beginn des Bombardements. Aber das war Betrug. Man hat die Männer erschossen oder in Arbeitslager gebracht. Das eine Lager ist Karakaj, im Industrieviertel von Zvornik, das andere in einer Turnhalle in der Stadt.

Meine Mutter hatte ein Restaurant-Café. Viele Moslems in Herzegowina haben Cafés, Reataurants, Hotels. Drei Freunde, die in der SDA, der muslimischen Partei sind, sind zu meiner Mutter gekommen und haben erzählt: Serbische Polizisten hätten sie auf der Straße aufgehalten, hätten sie ins Lager mitgenommen. Da ist gleichzeitig eine Fabrik, wo Waffen und Munition hergestellt werden. Die drei wurden mißhandelt und gepeitscht, sie sollten verraten, wo sich andere Moslems versteckt hatten. Dem einen haben sie ein Ohr abgeschnitten. Im Lager, erzählten sie, hätte man überall Blut gesehen und immer Schreie gehört. Da lagen abgeschnittene Gliedmaßen. Später hat man die drei freigelassen, damit sie für die Serben spionierten. Sie glauben, daß 7.000 Menschen in dem Lager Karakaj bei Zvornik sind.

Die Tschetniks hatten eine Liste von gutsituierten Moslems in Zvornik. Sie sind zu einem Arzt gekommen, haben geklingelt. Zuerst ist seine Frau rausgegangen, hinter ihr der Mann. Den haben sie sofort erschossen. Vielen haben sie die Kehle aufgeschnitten und in der Stadt an die Bäume oder Strommasten gehängt. Es wurden auch Menschen gezwungen, sich selber aufzuhängen. Und die Kinder haben zugesehen.

Ehefrau: Praktisch alle Frauen und Männer aus Mischehen sind getötet worden. In Visegrad ist ein Krankenhaus, wo auch behinderte Kinder gelebt haben. Die Serben haben alle Kinder umgebracht, die Mädchen vorher vergewaltigt.

Ehemann: Wahrscheinlich hat Zvornik das schlimmste Massaker von ganz Bosnien-Herzegowina erlebt. In den fünf Städten Bjeljina, Zvornik, Bratunac, Visegrad und Foca lebt wahrscheinlich kein einziger Moslem mehr, sie sind massakriert oder geflüchtet. Alle Leute, die ihre Haut retten wollten, mußten unterschreiben, daß sie auf all ihr Eigentum verzichten und nicht mehr nach Jugoslawien zurückkommen.

Familie B. aus dem eingeschlossenen Gorazde

Ehemann: Am 16. April sind wir mit unseren zwei Kindern aus Gorazde geflüchtet. Da gab es noch keinen richtigen Krieg. Aber die serbischen Tschetniks haben uns alles weggenommen. Sogar die Schuhe mußten wir ausziehen. Ich kenne diese Leute alle. Sie kommen aus einem Dorf, zwanzig Kilometer weiter. Wir sind in Gorazde eine bekannte, wohlhabende Familie. Ich hatte ein Restaurant. Jetzt haben wir nichts mehr. Sie nahmen uns alles weg, sogar meine Brille und meinen Kugelschreiber.

Ehefrau: Meine Schwester und mein Onkel leben in Herzegnovi in Serbien, und dorthin sind wir mit der ganzen Familie, mit meiner Schwägerin, mit den Kindern, von Gorazde aus geflüchtet. Dort waren wir bis zum 26. Mai. In Herzegnovi haben wir vom Roten Kreuz ganze zehn Mark für den ganzen Monat bekommen. Mein Mann und sein Bruder wurden von den Tschetniks gesucht, und das jugoslawische Rote Kreuz hat ihnen verraten, wo sie sind. Es kamen verschiedene Uniformierte, die zu den Tschetniks gehörten, und holten ihn und seinen Bruder ab. Sie wurden ins Gefängnis gebracht.

Ehemann: Mein Bruder und ich mußten gegenseitig zugucken, wie wir geschlagen wurden. Dann haben sie mehrmals mit dem Messer auf meinen Bruder eingestochen. Er war verletzt, aber nicht tot. Er ist jetzt auch in Deutschland.

Ehefrau: Ich versuchte am nächsten Tag zusammen mit meiner Schwester und meiner Schwägerin herauszukriegen, wo mein Mann ist. Nach 24 Stunden haben sie sie freigelassen, weil sie nicht genug Bewacher hatten, um sie ins Lager zu bringen. Allerdings nur unter einer Bedingung: daß sie Jugoslawien sofort verlassen. Wir mußten per Unterschrift auf all unser Eigentum verzichten. Aufgezeichnet in Berlin von Ute Scheub und Bascha Mika

„Ein Mann hat fast seine gesamte Familie verloren. Die Tschetniks holten sie aus dem Keller und erschossen einen nach dem anderen. Ihm haben sie durch den Kopf geschossen. Als sie merkten, daß er noch atmete, schossen sie ihm noch mal durch den Kopf. Doch er überlebte. Eine Nachbarin brachte ihn ins Krankenhaus zu einer serbischen Ärztin. Seine schwangere Frau hatte auch überlebt. Die Ärztin und die anderen serbischen Pfleger im Krankenhaus waren feine Leute, sie haben den Gelähmten nach Novi Sad in der serbischen Wojewodina transportiert; die Ärztin hat ihn als Serben ausgegeben. In Novi Sad lag er fünf Tage in der Klinik, bis man ihn weiter nach Belgrad brachte. In einem Belgrader Krankenhaus hat man ihn untersucht. Danach ist er mit seiner Frau nach Salzburg gereist, wo wir ihn trafen. Dort bekam sie auch ihr Baby.“

„Meinen eigenen Bruder hat man im Januar massakriert, meine Schwägerin war dabei. Sein bester Freund hat das getan, ein Serbe. Er hat 20 Jahre bei meinem Bruder in München gelebt. Bei lebendigem Leibe hat er meinem Bruder die Augen ausgestochen und die Beine abgeschnitten. Meine Schwägerin ist nach München gekommen mit ihrer 90jährigen Mutter — sie ist vollkommen verrückt. Ich sehe, was mein Schwager macht. Auch er tötet. Er ist Serbe. Meine eigene Schwester, sie ist Kroatin, ist gezwungen, ihren Mann zu unterstützen. Wenn sie das nicht macht, wird sie getötet, ihr eigener Mann würde sie töten. Ich habe meinen Schwager geliebt. Ich kann es nicht fassen — meine eigene Familie. Banjaluca, meine Stadt, wurde schon letztes Jahr besetzt. Die Leute wurden gezwungen, ihren Job aufzugeben. Die Stadt ist von Tschetniks umzingelt.“