Kunst? Standortmarketing!

Die Messestadt Leipzig rüstet sich fürs kommende Festivaljahr 1993. Dann heißt es: „Leipzig lebt Kultur“. Anmerkungen zu einer kulturpolitischen Gratwanderung  ■ Von Nana Brink

Die Partitur war längst geschrieben: 1993 sollte ein musikalisches Jubiläumsfeuerwerk über Leipzig hereinbrechen. 300 Jahre Oper, 250 Jahre Gewandhaus, 150 Jahre Musikhochschule — die kulturellen Aushängeschilder der Messestadt rüsteten zur Potenz- Show. Die Fürsten der Häuser, Opernintendant Udo Zimmermann und Gewandhauschef Kurt Masur, die in gegenüberliegenden Häusern am Sachsenplatz residieren und die Aktivitäten des anderen sonst mal weltmännisch-gelassen, mal mißtrauisch beobachten, steckten die Köpfe zusammen und beschlossen „ihr“ Jubiläumsprogramm. Weiland bekam auch die Stadtregierung Kenntnis von jenem hehren, bereits hochglanzbroschierten Unterfangen — und freute sich. Dann blies allerdings jene von der Stadt zwecks Imagepflege engagierte Münchner Unternehmensberatergruppe dem Oberbürgermeister ins Ohr: Warum man denn jenes Ereignis nicht weiter nutze und darüberhinaus eine kulturelle „Dachkampagne“ — Kultur in Leipzig überhaupt! — ins Leben rufe? Der Oberbürgermeister, rechter SPD-Flügel, sah zuvorderst in die Stadtkassen, merkte jedoch bei dem Begriff „Standortmarketing“ auf — ein Zauberwort. Es war bereits spät im Frühling, und im Frühsommer lag eine rote Mappe auf dem Tisch des OBM, darin vorgestellt die „optimale Nutzung des Kulturjahres 1993“. Wenn sich etwas in diesen Zeiten zur Identitätsstiftung nach innen (zu den BürgerInnen) wie außen (den Investoren) eigne, dann die Kultur und natürlich besonders die Kultur (oder meinten sie Kunst?) in Leipzig.

Der Kulturdezernent, Georg Girardet, aus seiner ministeriellen Tätigkeit im Berliner 750-Jahr-Rausch festivalerprobt und gerade ein paar Monate im Amt, befand die Sache zwar als „spannend“ aber auch „schwierig“. Zu recht: ein halbes Jahr bleibt bis 1993, es gibt weder ein Konzept noch Geld. So taufte man das Kind „Leipzig lebt Kultur“ und ließ im Schnellverfahren erst einmal zwecks grafischer Einheitlichkeit ein Plakat entwerfen. Alle künftigen Jubiläumsveranstaltungen sollten darauf erscheinen, gekennzeichnet durch einen neon-orangefarbenen Fleck. Denn nur wer den Punkt '93 auf seinem Programm hat, „lebt“ in Leipzig Kultur. Man unterrichtete nun auch das Kulturamt, das als dem Kulturdezernat nachgeordnete Behörde mit der Verwaltung sowohl der städtischen Kulturhäuser wie der freien Szene betraut ist und befragte die einigermaßen überraschten Kulturarbeiter, wer denn an der Basis Kultur lebe und vor allem, wie man in Leipzig Kultur lebe und ob dies auch öffentlich darstellbar sei. Die eher informelle Idee des städtischen PR- Beraters entwickelte sich zunehmend zum Selbstläufer.

Dem Kulturdezernenten wurde nun die Aufgabe zuteil, die Herren Intendanten von der Absicht der Stadt zu unterrichten. Bald nach dem anberaumten Gesprächstermin las man selbst in den liebedienerischen bis lauen Feuilletons der Stadtjournaille von ernsten Zerwürfnissen zwischen Stadt und den stadtbekannten wie -gehegten Genies. Masur, häufiger aushäusig durch sein New Yorker Engagement, soll seinem Temperament gemäß barsch ausgerufen haben, ob man jetzt durch diesen unsäglichen Fleck (jenem auf dem Plakat) sich das Festival amtlich genehmigen lassen müsse. Der Opernchef, feinsinniger, aber nicht minder pikiert, ließ wissen, er werde sich nicht in der Partitur herumstreichen lassen. Schließlich konnten sich die Herren dazu hinreißen lassen, gemeinsam auf einem Plakat nebst Fleck zu erscheinen. Der Fleck „Leipzig lebt Kultur“ zeitigte neben der Beschaffung von Briefpapier für den eilends einberufenen Koordinierungsrat, der fieberhaft an einem Konzept bastelt, noch eine Anzeige im Stadtmagazin Kreuzer. Aufgerufen wurde das „kreative Potential“ der Stadt, freie Künstler, Gruppen und Vereine, zu einem „Ideenwettbewerb“. Man möge sich mit seinem Vorhaben inhaltlich auf die Jubiläen beziehen und möglichst an ungewöhnlichen Orten und spartenübergreifend inszenieren. Einzureichen waren die Vorschläge bis zum 30. Juli, die Anzeige erschien am ersten des Monats. Das Kulturamt stellte den Aspiranten finanzielle Unterstützung in Aussicht. Mittlerweile ist klar, daß es für diesen Bereich keinen Etat geben wird. Die Kassen für 93 sind leer. „Leipzig lebt Kultur“ ist bislang nichts weiter als ein Fleck. Und eine redliche Absicht. Brunhild Matthias, Kulturamtsleiterin, stellt sechs Monate vor Beginn des Festivaljahres lapidar fest, „daß man vielleicht noch etwas retten kann“. Das „populistische Brimborium“ habe sie von Anfang an bedenklich gestimmt, „aber der Slogan ,Leipzig lebt Kultur‘ ist doch gut“.

Bleibt die Frage, ob Kultur nicht eher Ausdruck von Leben ist — da mag ein wackerer Unternehmensberater sich in der Eile des Gefechts um den richtigen Standort schon mal semantisch vergaloppieren. Wie ein solches Festjahr aussehen könnte, liest sich wie aus dem Handbuch des bürgerlichen Festspiels: eine Eröffnungsgala für die Honoratioren, eine Podiumsdiskussion für die kritischen Geister (natürlich darüber, wie es sich kulturell so lebt in Leipzig) und ein Gauklerfest fürs Volk. Ersteres wird von den Standorthaltern wie den Banken gesponsert und letzteres nennt sich die „Einbeziehung der Kultur von unten“ und kann bisweilen — je nach Stadtteil — mit einem Straßenmusikanten-Wettbewerb alternieren. Somit wäre alles abgedeckt, man gibt sich „urban, weltoffen, dezentral und multikulturell“. Vielleicht sollte man den Slogan doch noch ändern: „Leipzig light — you get the feeling!“

Der Kotau vor der PR-Maschinerie zeigt vielleicht am besten, welchen Stellenwert dem Faktor Zufall in der kommunalen Kulturpolitik zukommt. Dabei ist die Festivalmißgeburt nur ein Ausdruck für mangelnde Kommunikation und ein fehlendes Konzept.