Ein Festival, auf dem es viel zu entdecken gibt

■ Movimientos '92 zeigt neben Produktionen prominenter Theatermacher vor allem vielversprechende Inszenierungen unbekannter Compagnien

zeigt neben Produktionen prominenter Theatermacher

vor allem vielversprechende Inszenierungen unbekannter Compagnien

29 Premieren in drei Wochen, davon diverse europäische Ur- und Welturaufführungen, und ein pralles Rahmenprogramm — wer beim diesjährigen Sommertheater-Festival den Überblick behalten will, braucht einen Computer, viel Zeit und ein gut gefülltes Portemonnaie. Doch der Reiz des Festivals besteht diesmal noch mehr als bislang in der individuellen Entdeckung. Verläßliche Prognosen und Tips sind rar gesät, da die Theaterszene Lateinamerikas aus europäischer Theatersicht bis jetzt noch relativ unvermessen ist. So erzählt Festivalleiter Dieter Jaenicke über das erste Unverständnis seiner Kollegen: „Die haben mich damals alle ganz erstaunt angesehen und mich gefragt: Was willst du denn da?“

Trotzdem gibt es natürlich nicht nur völlig Unbekanntes zu sehen. Drei Koryphäen des lateinamerikanischen Theaters, die auch außerhalb des Halbkontinents einen Namen haben, rahmen das Programm ein. Gleich zur Festivaleröffnung wird Carlos Gimenez, der seit 1971 mit seinem Theater „Rajatabla“ in Venezuela arbeitet und mit diversen Produktionen schon überall in der Welt gastierte, seine Inszenierung von Gabriel Garcia Marquez' Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt präsentieren. Gimenez hat den nahezu wortgetreu übernommenen Text von Marquez zu einer

aktuellen Darstellung der südamerikanischen Mittelschicht verarbeitet, die sich, eine Dekade nach dem Ende der diktatorischen Epoche, in ihren Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Wandel schmählich getäuscht sieht.

Ungefähr zur Halbzeit des Festivals wird dann Gerald Thomas mit zwei völlig unterschiedlichen Produktionen seinen Ruf als Kultstar des südamerikanischen Theaters zu beweisen haben. Insbesondere The Flash and Crash Days, eine Schlacht zwischen Mutter und Tochter, kümmert sich nicht um Empfindsamkeiten. Tabulos und ohne Angst vor Schrecken und sexueller Deutlichkeit entfesselt sich Thomas' Regie an den Alpträumen der zerstörten Kommunikation. Dieser Ansatz hat ihm überall in der Welt Haß und Hörigkeit gleichermaßen eingetragen.

„Macunaima“, die Gruppe von Antunes Filho, die mit zwei Produktionen das Festival beschließt, galt jahrelang als das berühmteste

Theater Südamerikas. Filhos kluge Verarbeitung unterschiedlichster kultureller Einflüsse zu einem dennoch eindeutig brasilianischen Theater und seine uferlose Phantasie begründen diesen Ruf.

Doch auch junge Compagnien machen im Vorfeld von sich reden. Besonders das exzessive Theater von „La Organización Negra“, die immer wieder mit „Fura dels Baus“ verglichen wird, und Ulysses Cruz' radikale Inszenierung von Asturias' El Senor Presidente wecken die Neugierde. Bilderreich verwandelt „Boi Voador“ die etwas angegraute Geschichte in eine neue Form poetischer Politik, die das Etikett „Magischer Realismus“ für sich beansprucht.

Das umfangreiche Tanztheaterprogramm macht eine Orientierung noch schwieriger. Neben Angels Margarits neuer Produktion, die am Grevenhofkai im Freihafen inszeniert wird, kehrt auch die spanische Compagnie „Danat Danza“ mit einer Choreographie zu Kaspar

Hauser zum Sommertheater zurück. Das ungewöhnliche Projekt der peruanischen Comapgnie „Integro“, die mit tänzerischen Mitteln einen Kommentar zu den unvorstellbaren Zuständen in ihrem Heimatland liefert, und die argentinische experimentelle Underground- Truppe „El Descueve“ fallen bei den lateinamerikanischen Produktionen als erstes ins Auge. Aber wie gesagt, hier ist „Entdeckung“ gefragt. Vielleicht diesmal ohne europäische Eroberungsmentalität.

Ausdrücklich hingewiesen sei auf das Rahmenprogramm. Hier sprechen Regisseure (Thomas, Gimenez, Filho, Cruz und andere) über ihr Theater und ihre Länder, und berühmte Übersetzer südamerikanischer Literatur wie Curt Meyer- Clason halten Vorträge. Fast alle Veranstaltungen dieses Forums kosten keinen Eintritt. Till Briegleb

Informationen, das vollständige Programm und Karten gibt es beim Sommertheater-Info-Büro unter 2705627 oder 277419