Das kam später

Isabel Allendes neuer Roman „Der unendliche Plan“  ■ Von Sibylle Burkert

Es gibt AutorInnen, deren erster Roman die späteren eindeutig überschattet. Zu ihnen gehört Isabel Allende mit ihrem 1984 erschienen „Geisterhaus“. Dieses Buch besticht durch die Verknüpfung sagenhafter Episoden aus der chilenischen Tradition mit historischen und politischen Ereignissen und verfolgt den Weg einer Familie von ihren Wurzeln am Ende des vorigen Jahrhunderts bis zum Sturz Salvador Allendes. Die Machtübernahme durch Pinochet, die das Leben unzähliger chilenischer Menschen wenn nicht auslöschte, dann maßgeblich verän- derte, bedeutete auch für Isabel Allende einen tiefen Einschnitt. Obwohl mit dem demokratischen Prä- sidenten verwandt (ihr Vater und Salvador Allende waren Cousins), begriff sie erst nach 1973 die volle historische Größe der Reformbestrebungen der Unidad Popular. Aufgrund ihrer vergleichsweise unpolitischen Arbeit als Leiterin einer Kinderzeitschrift nicht unmittelbar bedroht, mußte sie zunächst keine Repressalien ertragen. Diese wurden erst spürbar, als sie Verfolgten und deren Familien half, unterzutauchen oder Chile zu verlassen. 1975 ging auch sie nach Venezuela ins Exil.

Obwohl durch die gemeinsame spanische Sprache mit ihren neuen Landsleuten verbunden, fühlte sich Isabel Allende in Caracas als Fremde. Diesen Widerspruch erlebte sie ungleich schärfer, als sie 1986 nach Kalifornien übersiedelte. Jetzt ist bei Suhrkamp ihr neuer Roman erschienen, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Wieder ist es eine Familie, deren Lebensweg Allende verfolgt, und wieder umfaßt das Buch einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten.

Erzählt wird die Geschichte eines amerikanischen Jungen, der am Ende des Zweiten Weltkriegs etwa fünf Jahre alt ist. Gregory Reeves ist mit seinen Eltern, seiner Schwester Judy und Olga, einer Freundin der Eltern, in einem klapprigen Lastwagen auf den amerikanischen Highways unterwegs. Die Eltern sind vor vielen Jahren nach Amerika eingewandert: Der Vater kam aus Australien, die Mutter, eine Jüdin, gemeinsam mit Olga aus Odessa. Das Nomadenleben der Familie Reeves ist darauf ausgerichtet, die Idee des „Unendlichen Plans“ zu verbreiten. Dieser Plan ist ein Auftrag, den der Vater Charles angeblich durch einen MEISTER in der Wüste erfuhr.

In Vorträgen, die immer erstaunlich viele Zuhörer finden, erläutert Charles den Plan und versucht ansonsten, seinen Mitmenschen über ihren eintönigen Alltag hinwegzuhelfen. Das Leben der Reeves entspricht in keiner Weise den normalen Lebensgewohnheiten einer amerikanischen Mittelstandsfamilie. Trotzdem registrieren bereits die Kinder, daß sie als Amerikaner anders behandelt werden. Wenn sie zum Beispiel eine Staatsgrenze überqueren, begegnet man ihnen respektvoll, während Kubaner oder Mexikaner, die genauso unterwegs sind wie sie, gnadenlos schikaniert werden. Dieses Wanderleben, das Gregory auch später als die glücklichste Zeit seines Lebens empfindet, wird abrupt beendet, als die Familie durch eine schwere Krankheit des Vaters gezwungen ist, sich dauerhaft niederzulassen. Das neue Zuhause der Reeves wird das von Mexikanern bewohnte Barrio von Los Angeles, wo sie als weiße Nordamerikaner Außenseiter sind. Dieser Umstand trifft Gregory am härtesten. Zwar gewöhnt er sich schnell an die neue Sprache, ein Gemisch aus Spanisch und Englisch (Spanglish) und erlernt einige im täglichen Straßenkampf lebensnotwendige Taktiken, aber das Gefühl des Fremdseins bleibt. Nach dem Tod des Vaters treiben die einzelnen Familienmitglieder orientierungslos dahin. Gregory findet Freunde in der Familie des Mexikaners Pedro Morales und besonders in dessen Tochter Carmen. Aber gerade durch die Konfrontation mit einer anderen Kultur entstehen Widersprüche, die ihn zum ewig Fremden machen. Jahre später, wenn er die Armut des Barrios längst hinter sich gelassen hat, sehnt er sich nach der Geborgenheit und dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Mexikaner zurück. Als Erwachsener versucht er deshalb immer wieder, davon etwas in sein Leben hinüberzuretten, das von den Werten einer Industriegesellschaft geprägt ist. Er will Geld verdienen, und zwar viel Geld. Je mehr Erfahrung er als Anwalt sammelt, um so cleverer werden seine Methoden, und er ist dabei genauso skruppellos wie seine Kollegen. Zwei Ehen scheitern, die Kinder aus diesen Ehen sind drogenabhängig beziehungsweise verhaltensgestört. Gregory konstatiert es und ist trotzdem unfähig, etwas dagegen zu unternehmen. Immer wieder erliegt er den Einflüssen seiner materialistischen Umwelt.

Seine Geschichte wird aus der Sicht einer unbeteiligten Person erzählt. Dazwischengeschoben sind Ich-Betrachtungen der Hauptperson, die Gregory bereits Erlebtes reflektieren oder Zukünftiges vorwegnehmen lassen. Wie im Märchen, wo immer wieder die gleichen Formulierungen gebraucht werden, gipfeln solche Vorgriffe meist in dem Satz: “...aber das war alles viel später...“

Wieder beweist sich das außerordentliche Erzähltalent dieser Frau in der Traditon von Amado und Garcia- Marquez. Sie schildert die amerikanische Gesellschaft (und Zeitgeschichte) mit sezierender Genauigkeit, wobei ihre lateinamerikanische Herkunft und ihre Liebe zu ihren Landsleuten immer spürbar bleiben: “... Die Gringos sind alle Spinner, die tun Pfirsiche ans Fleisch und Marmelade an die gebackenen Eier, sie schicken ihre Hunde zum Friseur, an die Jungfrau Maria glauben sie auch nicht, die Männer spülen im Haus das Geschirr, und die Frauen waschen auf der Straße Autos, bloß mit Oberteil und kurzen Hosen, daß man alles sehen kann, aber wenn wir uns nicht mit ihnen anlegen, kann man bestens leben. ...“

Wie auch die anderen Romane Isabel Allendes („Von Licht und Schatten“, „Eva Luna“) ist das neue Buch nicht frei von Sentimentalität und einem Hang zum Kitsch. Aber da sie sich in ihrer Erzählweise konsequent dazu bekennt, kann man sich als Leserin einfach darauf einlassen. Die Frage, ob es nicht tatsächlich einen unendlichen Plan gibt, der losgelöst von uns existiert und nach dem wir zu leben gezwungen sind, kann jeder Leser und jede Leserin nur selbst beantworten.

Isabel Allende: „Der unendliche Plan“. Aus dem Spanischen von Lieselotte Kolanoske, Suhrkamp 1992, 464Seiten, 44DM.