Vom Hoffnungsträger zur überforderten Weltpolizei

■ Die Erwartungen an die UNO stehen in keinem Verhältnis zu ihren Möglichkeiten. In immer mehr Konflikten soll sie friedensstiftend eingreifen. Auf eine solche Flut von Aufgaben ist der...

Vom Hoffnungsträger zur überforderten Weltpolizei Die Erwartungen an die UNO stehen in keinem Verhältnis zu ihren Möglichkeiten. In immer mehr Konflikten soll sie friedensstiftend eingreifen. Auf eine solche Flut von Aufgaben ist der UNO-Apparat institutionell, politisch und finanziell nicht vorbereitet.

Bricht der „Hoffungsträger“ UNO unter der Bürde maßloser Erwartungen zusammen? Der Horizont der Weltorganisation schien nach dem Ende der Blockkonfrontation weit geöffnet. Selbst der Mißbrauch des Namens „Vereinte Nationen“ für die Operationen der Anti- Saddam-Koalition am Golf hat der „UNO-Renaissance“ keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: der Aktionsradius für friedensbewahrende oder -stiftende Maßnahmen der UNO erweiterte sich ständig. Seit 1988 sind mehr „peace-keeping- missions“ auf den Weg gebracht worden als zuvor in den 43 Jahren seit Bestehen der UNO.

Aber auch der Aufgabenbereich von UNO-Missionen hat sich bis zu dem Punkt erweitert, wo der Friedenstruppe — wie im Fall Kambodschas — die Staatsgewalt für einen begrenzten Zeitraum förmlich übertragen wird.

Ist die UNO als Friedensinstrument für einen solchen Ansturm institutionell, politisch und finanziell hinreichend vorbereitet? Die Antwort ist ein klares Nein. Seit dem historischen Schwenk der Sowjetunion 1987/88 von der Strategie des internationalen Klassenkampfs hin zur Bewältiging der „Menschheitsaufgaben“ war die Blockade des Weltsicherheitsrats aufgehoben. Die sowjetischen Vorschläge zielten auf eine Stärkung der politischen Kompetenzen der Organisation, insbesondere der Rolle des Generalsekretärs. Seinen Niederschlag fand diese Initiative in einer Resolution der UNO-Vollversammlung vom Dezember 1988, die den Generalsekretär auffordert, nicht nur nach Beauftragung durch den Sicherheitsrat, sondern kraft eigener Initiative an Konfliktparteien heranzutreten, sich durch „fact-findung-missions“ zu unterrichten und — wenn nötig — den Sicherheitsrat zum Handeln aufzurufen.

Der neue Generalsekretär Butros Ghali fand in seinem Apparat im wesentlichen zwei Stabsstellen vor, die ihn bei der Bewältigung dieses erweiterten Aufgabenkreises unterstützen konnten: Das Büro für spezielle politische Angelegenheiten (OSPA) und das Büro für Forschung und Informationssammlung (ORCI). Beide Büros gehören zum UNO-Generalsekretariat und werden von hohen UNO-Beamten geleitet. Marrack Goulding, Chef der OSPA, ist verantwortlich für sämtliche Friedensoperationen der UNO. Die Büros haben, verglichen mit dem hypertroph besetzten Gesamtapparat, einen lächerlich geringen Personalbestand. Sie sind rein technisch nicht in der Lage, sich einen selbstständigen Überblick über die Entwicklung in Krisengebieten zu machen. Noch weniger können sie Informationen beschaffen, die eine frühzeitige, präventive Aktion des Generalsekretärs erlauben. Diese „konstitutionelle“ Schwäche hat in der Jugoslawien-Krise bereits fatale Konsequenzen gezeitigt.

Der im Juli offen ausgebrochene Streit zwischen dem Generalsekretär und dem Sicherheitsrat, nachträglich verniedlicht als Ergebnis allgemeiner Nervenanspannung und Überlastung, verweist auf ein grundsätzliches Problem. Der UNO-Sicherheitsrat monopolisiert kraft Satzung alle Fragen der Friedenssicherung, einschließlich der Verhängung von Sanktionen. Er ist es auch, der Truppen bereitstellt, falls militärisches Eingreifen gegen einen Aggressor beschlossen wird. Die ebenfalls in der UNO-Satzung vorgesehene Möglichkeit, eine Stabsstelle und ein ständiges bzw. sofort mobilisierbares Truppenkontingent aufzustellen, konnte in der Zeit des Kalten Krieges nicht verwirklicht werden.

Butros Ghali hat im April dieses Jahres den Vorschlag zahlreicher Experten aufgegriffen, mit dem Projekt endlich Ernst zu machen. Nach seinem nur skizzenhaft erläuterten Plan unterstünde die ständige Streitmacht dem Generalsekretariat, könnte allerdings nur auf einen Beschluß des Sicherheitsrats hin tätig werden. Teilnahmeberechtigt sollte jedes UNO-Mitglied sein, was mit der geltenden Satzung schwer vereinbar wäre. Bislang hat sich von den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats nur Frankreich bereiterklärt, zu der Streitmacht beizutragen.

Haupthindernis sind die USA. Sie haben nicht die Absicht, neben der Nato und notfalls Truppen der Westeuropäischen Union (WEU) noch weitere Anwärter für das Geschäft der „schnellen Eingreiftruppe“ zuzulassen. Ein Beamter des Auswärtigen Amtes hat zu dem Komplex im einem Gespräch verlauten lassen, Ghali habe eine gute Idee gehabt — allerdings ohne die geringste Verwirklichungschance.

Bei der Auseinandersetzung zwischen Ghali und dem Sicherheitsrat ging es aktuell darum, daß dem UNO-Kontingent in Bosnien vom Sicherheitsrat von heute auf morgen die Aufgabe übertragen worden war, das schwere Kriegsgerät der Bürgerkriegsparteien sicherzustellen. Der Generalsekretär erklärte die Blauhelme für überfordert. Diese Einschätzung erwies sich als realistisch.

Überfordert sind die UNO-Soldaten in Sarajewo, wo sie von den Moslems und Kroaten verurteilt werden, weil sie Brosamen verteilten, statt die Todesschützen zu bekämpfen und die serbischen Artilleriestellungen um Sarajewo auszuheben — obwohl diese doch UNO-Einrichtungen und UNO-Soldaten angriffen, mithin der Fall der Selbstverteidigung gegeben sei. Überfordert sind die UNO-Soldaten auch in Ostslawonien und der besetzten Kraijna. Sie versagen zwangsläufig in ihrem Mandat, die Flüchtlinge zu repatriieren. Sie sind darüber hinaus nicht einmal in der Lage, weiteren Vertreibungen Einhalt zu gebieten, da sie, wiederum gegen ihr Mandat, die Autorität der kroatischen Behörden nicht wiederherstellen konnten.

Aber auch das UNO-Engagement in Somalia und in Kambodscha sind in ernster Gefahr. In Somalia hat die UNO ihre Hilfstransporte eingestellt, obwohl das Leben Zehntausender Hungernder von ihrer Fortsetzung abhängt. Hier könnte ein relativ kleines UNO-Truppenkontingent die Bürgerkriegsparteien davon abhalten, sich die Lebensmittel anzueignen, bzw. hohe „Zölle“ zu erpressen.

In Kambodscha droht der Friedensprozeß an der Weigerung der Roten Khmer zu scheitern, sich entwaffnen zu lassen. Nicht ohne Bitternis hat der Generalsekretär festgestellt, der Sicherheitsrat verwende zwei Drittel seiner Beratungszeit auf die Lage in Ex-Jugoslawien, vernachlässige aber die Krisenherde in der Dritten Welt, deren Behandlung ebenso unaufschiebbar sei und deren Lösung oft weniger Energie und Mittel erfordere.

Obwohl bekanntlich Männer nicht Geschichte machen, hängt in der gegenwärtigen, chancen- wie risikoreichen Lage der Weltorganisation viel von der Person des Generalsekretärs ab. Butros Ghali hat sich entgegen vielfältiger Prognosen als energischer Mann entpuppt, der auch — und das ist absolut neu in der UNO — in der Lage ist, Konflikte mit dem Sicherheitsrat durchzustehen. Er ist, wie es ein Diplomat im UNO- Foyer formulierte, ein einsamer Wolf. Da er kein zweites Mal kandidiert, braucht er keine Rücksichten zu nehmen.

Aber all sein Mut und seine Cleverneß werden vergeblich sein, wenn die reichen, den Sicherheitsrat dominierenden Nationen des „Nordens“ nicht damit aufhören, die UNO zwar zu feiern und ihr ständig neue Aufgaben aufzubürden, ihr aber die für den Erfolg notwendigen Mittel und Instrumente verweigern. Gefordert ist nicht die Reform an Haupt und Gliedern, obwohl auch diese für eine Organisation dringlich ist, die zu einer Zeit geboren wurde und aufwuchs, als die großen Reiche scheinbar allmächtig waren. Gefordert ist das jetzt mögliche — genügend Geld und Kompetenzen für ein effektives Friedensengagement der UNO-Exekutive. Christian Semler