Wir alle sind bosnische Muslime

■ In Sarajevo tobt auch ein Religionskrieg zwischen Christentum und Islam/ Es muß jetzt zu einer Neuauflage der Golfkriegsallianz kommen

Während man noch akademisch über die islamische Gefahr für Europa debattiert und bücherfüllend schwadroniert, vollzieht sich mitten in Europa ein Völkermord an Muslimen. Die in Sarajevo, Mostar und Gorazde krepieren, sind mehrheitlich islamischen Glaubens. Der großserbische Traum, der sich (mit kroatischer Komplizenschaft?) in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo erfüllen soll und auch territoriale Gestalt annehmen wird, wenn sich die militärische Konstellation nicht ändert, ist nicht zuletzt von religiösen Mythen und Obsessionen genährt. Bereits Hunderte von Moscheen sind zerstört; die perverse Grausamkeit und der ungezügelte Vernichtungswille der serbischen Aggressoren hat Elemente eines atavistischen Heiligen Krieges und der Revanche für die Niederlage gegen die Türken am Amselfeld — im Jahr 1389.

Zwischen katholischen Kroaten und orthodoxen Serben, die auf ihre Heimatstaaten — letztere auch auf den kommunistischen Apparat der Belgrader Zentrale — rekurrieren können, droht die bosnische Mehrheit der Muslimanen zugrundezugehen. Ihre konfessionell begründete Nationalität ist „weicher“ und im Zersetzungsprozeß Jugoslawiens weniger resistent als die Blut- und Boden-Identität der beiden anderen Volksgruppen, die oftmals Muslime als konvertierte Feiglinge betrachteten und sie schlicht der eigenen Nation zuschlagen. Bosnien-Herzegowina, mit knapp zwei Millionen Sunniten das größte moslemische Gemeinwesen auf dem Kontinent, soll vom Erdboden verschwinden.

Der Verdacht bosnischer Politiker liegt nahe, daß den west- und mitteleuropäischen Nationen an seinem Erhalt weniger gelegen ist als am Fortbestand ihrer traditionellen Verbündeten auf dem Balkan. Doch der Islam ist dort bereits tausend Jahre präsent, lange vor der Eroberung durch das Osmanische Reich. Sarajevo war eine Bastion des Multikulturalismus, das östliche Pendant zur andalusischen Koexistenz von Muslimen, Christen und sephardischen Juden; wie dort hatten arianische Christen, die Bogumilen, die Konversion zum Islam der Katholisierung vorgezogen.

Nur kurze Perioden ein selbständiges Reich, zuletzt von Österreich- Ungarn annektiert und auch im ersten Jugoslawien zwischen den Kriegen keine autonome Provinz, galt Bosnien-Herzegowina im Norden als türkische Hinterwelt, während sich die Muslime selbst als weiter entwickelte Europäer fühlten. Im Zweiten Weltkrieg schloß sich ein Teil, beeinflußt durch den Großmufti von Jerusalem und Judenhasser al-Husaini, den Achsenmächten an; zusammen mit der berüchtigten Ustascha wütete eine kleine „Moslem-SS“.

Doch die Mehrheit ging zu Titos Partisanen; das selbständige Bosnien war eine Wiege des zweiten Jugoslawien, des sozialistischen Bundesstaates nach 1945. 1948 gab es aber eine schlimme Atheismus-Kampagne gegen die Muslime; serbische Zentralisten betrieben eine rigorose Assimilationspolitik. Erst 1968 wurden die Muslimanen, anders als die albanisch sprechenden Kosovo- Muslime, als Volksgruppe anerkannt.

Doch war damit der Kampf gegen den angeblichen Panislamismus nicht zu Ende. Für serbische wie kroatische Nationalkommunisten blieben die Muslime ein Fremdkörper und Störfaktor — und unter „Fundamentalismus“-Verdacht. Trotz der geistigen Anlehnung an die religiösen Zentren im Nahen Osten und der von dort kommenden Unterstützung für den Bau von Moscheen hat aber das Gros der bosnischen Muslime integristischen, gar „khomeinistischen“ Versuchen widerstanden; Ulema und Gläubige nehmen eine aufgeklärte und säkulare Position ein, die, befreit vom kommunistischen Kalkül, für die Zukunft des Islam im Westen exemplarisch ist. An der Islamischen Hochschule von Sarajevo und vielen hundert Moscheen und Medresen hatten sie eine Bastion, die jetzt dem serbischen Feldzug zum Opfer fällt.

Pogromopfer, vergewaltigte Frauen, Deportierte und Flüchtlinge, die displaced persons unserer Tage, darf man nicht erneut nach ethnischen oder religiösen Gesichtspunkten aussieben. Aber das Massaker an den Muslimen verdient die gesonderte Aufmerksamkeit der Europäer und Christen; der päpstliche Aufruf, den Aggressor zu stoppen, hätte auch in dieser Hinsicht noch deutlicher ausfallen können. Es dürfen dabei nicht nur taktische Überlegungen eine Rolle spielen, daß sich bosnische Politiker womöglich zu stark an die Türkei, an den Iran oder arabische Staaten anlehnen könnten, was ihnen angesichts des allgemeinen Stillhaltens im Westen nicht zu verübeln wäre.

Die ausdrückliche Solidarität mit den bedrängten und verfolgten Muslimen ist auch nicht allein deshalb geboten, weil die serbische Lösung ein zweites Palästina und damit die Gefahr einer neuen Intifada heraufbeschwört, die für Desperados der dritten Einwanderergeneration Modell bilden könnte. Vielmehr werden jetzt die Weichen gestellt, wie der Islam im Westen präsent bleibt, und Millionen muslimischer Immigranten verfolgen mit Aufmerksamkeit, wie sich das Abendland verhält.

Es muß jetzt zu einer Neuauflage der gescheiterten Golfallianz kommen, die Amerikaner, Europäer, Israelis und einen großen Teil der arabischen Staatsführungen vereinte — ein Militärbündnis, das keine friedliche Fortsetzung gefunden hat. Für die gemeinsame Abwehr von Verbrechen gegen die Menschlichkeit könnten nun auch die arabischen Massen gewonnen werden, ein Vorgang, der auf die islamischen Länder selbst zurückwirken wird. Eindeutig in diesem Zusammenhang nicht nur die sich mehrenden Stimmen in der Türkei, die wie Milliyet eine militärische Intervention gerade der USA fordern. Auch in Ägypten setzt man Hoffnungen darauf, mit einer Wiederaufnahme der Golfkriegsallianz „das kleine friedliebende moslemische Volk“ der Bosnier (Al Akhbar) vor dem Genozid zu retten. Bush irre sich, wenn er denke, seine zögerliche Haltung würde in der arabischen Welt vergessen. Noch immer würden auch die Juden den Papst beschuldigen, daß er zur Verfolgung der deutschen Juden unter den Nazis geschwiegen habe.

Dieses Mal werden sich die Deutschen nicht mehr mit fadenscheinigem Hinweis auf die Geschichte darauf beschränken können, Kirchentagsdialoge oder ein gepflegtes Gespräch über Lessings Ringparabel zu veranstalten. Muslime vor pervertierten Kreuzzüglern in Schutz zu nehmnen, ist keine Hilfestellung für andersgläubige Fremde, sondern angesichts der gemeinsamen Geschichte und Kultur ein Akt der europäischen Selbstbehauptung. Claus Leggewie

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Gießen und Publizist