Paul Parin: Gedanken eines entsetzten Zuschauers

Viele Teilnehmer (des Meetings der Helsinki Citizens Assembly in Belgrad am 7.Juli 1991) argumentierten, daß Westeuropa teilweise für die Krise (in Jugoslawien) verantwortlich gemacht werden muß, weil es versäumt hat, eine kreative und ernstzunehmende Politik für Osteuropa nach den Revolutionen des Jahres 1989 zu entwickeln.“ Heute, ein Jahr später, muß ich dieser Feststellung zustimmen.

Daß „der Westen“ so hilflos dasteht, hat vorerst mit den Kriegen in Jugoslawien wenig zu tun. Seit dem Golfkrieg verhalten sich die Politiker so, als ob eine Hilfe von außen nur mit militärischen Mitteln möglich wäre. Der Faszination der „Neuen Weltordnung“ der USA verfallen, hilflos, weil ohne Militärapparat, halten die europäischen Regierungen still. Man kennt die Folgen einer militärischen Intervention: Sie sind schrecklich. Wenn sich die Einsicht durchsetzen sollte, daß Krieg keine Fortsetzung der Politik ist, sondern die Folge ihres Scheiterns, wäre viel gewonnen.

Die jugoslawische Krise betraf die Staaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) in einem Moment gesteigerter politischer Ambivalenz. Gegen den mächtig beschleunigten Beschluß, sich zur Festung Europa zusammenzuschließen, machten sich Kräfte bemerkbar, die seither in der Auflehnung gegen den Vertrag von Maastricht Gestalt angenommen haben. Vor einem Jahr jedoch „versuchte die EG jene Lösung aufzudrängen, die sie selber vorzog“. Jugoslawien sollte zusammenbleiben. „Das Festhalten an der Einheit war weit davon entfernt, neutral zu sein, und nahm keine Rücksicht auf die Kräfte, die Jugoslawien auseinanderzerrten... Die erste ernsthafte Intervention der EG erfolgte erst im Mai 1991, als es bereits zu Gewalttaten gekommen war.“ (Hugh Miall)

„Die Krise Jugoslawiens war zu Beginn der achtziger Jahre nach Titos Tod offensichtlich geworden“, schreibt Dusan Janjic vom Institut für Sozialwissenschaften in Belgrad. Offensichtlich, aber nicht für den Westen. Der Tod Titos (1980) gab Anlaß zur Sorge um die Nachfolge, andererseits aber zur Genugtuung, daß wieder ein kommunistischer Machthaber verschwunden war.

Im Jahr darauf setzte die polizeilich-militärische Unterdrückung der albanischsprechenden Bevölkerung der autonomen Provinz Kosovo ein, die schließlich im Juli 1990, nach der mit großer Mehrheit des regionalen Parlaments verkündeten „Unabhängigkeit“, der Nationalversammlung von Serbien unterstellt wurde, erstmals seit 1946.

Gleichzeitig begann der demagogisch und organisatorisch begabte serbische Bankmann und Politiker Slobodan Milosevic seinen unaufhaltsamen Aufstieg. Der serbische National-Kommunismus (nach der Umbenennung der Partei eigentlich: National-Sozialismus!) ähnelte immer mehr seinem abscheulichen Namensvetter: Massenaufmärsche, historisierende ultra-nationale Parolen, Anspruch auf unbestrittene Herrschaft und vor allem die grausame Verfolgung einer traditionell diskriminierten Volksgruppe. Die Unterdrückung der Albaner in Kosovo hatte bereits 1984 ein solches Ausmaß angenommen, daß unser Freund, der Arzt und Schriftsteller Goiko Nikolis, in Belgrad, Serbe, Kommunist, Mitglied der Serbischen Akademie und Träger der höchsten Auszeichnung, feststellen konnte: „Wir sind dabei, uns künstlich ein Nordirland-Problem zu schaffen; das können wir nie wieder loswerden, und daran wird unser ganzer Staat zerbrechen.“

In einem Memorandum klagten 1986 zweihundert prominente Serben ihre Regierung unter grober Umdrehung der tatsächlichen Verhältnisse an, ein Genozid der Albaner an der serbischen Minderheit in Kosovo zu dulden und die Serben in allen Republiken im Stich zu lassen. Nach einem internen Parteiputsch wurde Milosevic zum Führer des Bundes der Kommunisten in Serbien.

Die fünf übrigen Republiken versuchten nie, gemeinsam den Machtansprüchen Serbiens entgegenzutreten, solange das föderative Staatspräsidium noch funktionierte.

In Europa hoffte man lange, daß in Jugoslawien unter einer starken, eventuell militärischen Zentralregierung law and order wieder hergestellt würde, man berief sich auf das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Vor allem fürchtete man den „Ansteckungseffekt“ (auf Korsen, Basken, Nordirland etc.), wenn die Völker Jugoslawiens auseinandergingen, und dachte an die Behinderung der Verkehrswege nach dem Südosten durch neue Grenzen. Der britische Außenminister Hurd meinte bei Ausbruch der Kämpfe, die jugoslawische Armee — die stärkste auf dem Kontinent außerhalb der Nato — sollte erst einmal im eigenen Saft verkochen.

Nach Ausbruch der Feindseligkeiten (zuerst im Juli 1991 gegen Slowenien) setzte jenes „Versagen“ der westlichen Politik ein, die mit fünfzehn ausgehandelten Waffenstillstandsabkommen (mit immer den gleichen Gesprächspartnern), die jeweils sofort gebrochen wurden, nur als Stillhaltepolitik bezeichnet werden kann. Angesagt war „Wegschauen und Stillhalten“, die Maxime, die schon Hitler den Aufstieg und die Konsolidierung seiner Macht ermöglicht hatte. Nach der offiziellen Darstellung handelte es sich um unverständliche Balkanwirren, bei denen man nur zuwarten könne. Dieser Standpunkt wurde von den westlichen Medien übernommen und prägte bis vor kurzem die öffentliche Meinung im Westen, obwohl todesmutige Reporter täglich von den Kriegsschauplätzen berichteten. Bald wurde hinzugefügt, daß es die unbestreitbare Pflicht der jugoslawischen Bundesarmee sei, dem Zerfall des Staates Einhalt zu gebieten, der von Slowenien und Kroatien mit dem Streben nach Selbständigkeit und Anerkennung ausgelöst worden war.

Doch hatte sich die Situation in Jugoslawien nach den ersten freien Wahlen 1990 grundlegend verändert. Diese „führten in allen Republiken zum Sieg nationalistischer Führer... Slowenien und Kroatien waren für eine konföderative konstitutionelle Assoziation der Republiken nach dem Modell der EG und raschen Übergang zu einer Marktwirtschaft auf der Basis rechtsstaatlicher Ordnung. Serbien, Montenegro und die Föderative Jugoslawische Armee wünschten, die föderative Verfassung und ein System zentraler Kontrolle aufrechtzuerhalten“ (Dusan Janjic).

Der Zusammenbruch der Föderation war „hausgemacht“, ebenso wie in den real existierenden Kommandostaaten Perestroika, Glasnost und die wirtschaftliche Krise. Heute herrscht in Jugoslawien Krieg, und Europa ist daran schuld, nicht weil es keine Militärmacht ist, sondern weil es — für Jugoslawien wie für die anderen östlichen Staaten — in keiner Weise im Stande war, der obsolet gewordenen kommunistischen Ideologie eine eigene Idee, geschweige denn eine tragende Utopie entgegenzusetzen. Der „freie Markt“ ist erstens noch nirgends realisiert worden, hat überhaupt keinen politischen Gehalt und ist schließlich nicht das, was Europa den östlichen Völkern — so auch Jugoslawien — versprochen oder vielmehr vorgegaukelt hatte.

Am deutlichsten wird die Doppelzüngigkeit der europäischen Politik an der Frage, ob die Anerkennung der Souveränität der Republiken — bisher von Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina — zu früh erfolgt sei oder zu spät, oder ob die Anerkennung den heute tobenden Krieg verschlimmert oder gar erst ausgelöst habe.

Wenn Europa seinen Prinzipien gemäß verfahren wäre, hätte es irgendwann nach 1981 energisch gegen die massive Verletzung der Menschenrechte durch die serbische Regierung protestieren und dem Föderativstaat nach dem eklatanten Bruch der Verfassung mit diplomatischen Mitteln begegnen müssen: Abbruch der diplomatischen Beziehungen, Vorschlag an die internationalen Organisationen zum Ausschluß, Anerkennung aller Teilrepubliken, Unterstützung der Option einer Konföderation nach dem Vorbild Europas. Vor Ausbruch der Feindseligkeiten hätten diese Schritte trotz des massiven Propagandakrieges, der von den Regierungen in Belgrad und bald auch in Zagreb geführt wurde, vielleicht noch zu einer Lösung der Konflikte auf dem Verhandlungsweg führen können. Später kamen diese Schritte gleichzeitig zu spät und für die Hetzpropaganda rechtzeitig, also „verfrüht“, weil die Armee gegenüber den Vermittlern der EG und alsbald auch der Uno den Wunsch der Teilrepubliken „nach Sezession“ zur Begründung des serbischen Eroberungs- und Vernichtungskrieges verwenden konnte. Völlig zur Farce verkamen die nach der juridischen Prüfung (Badinter-Komitee) endlich ausgesprochenen Anerkennungen, als Mazedonien, gegen das kein Einwand erhoben worden war, wegen des Protests Griechenlands nicht, jedoch Kroatien, trotz schwerwiegender Bedenken wegen Menschenrechtsverletzungen, sogleich anerkannt wurde. Noch dazu wurden Serbien und Montenegro, die längst dabei waren, ihre blutigen Kriege zu führen, noch lange als Verhandlungspartner und Repräsentanten der de facto nicht mehr existierenden gesamtjugoslawischen Föderation akzeptiert und damit die Aggression der Armee legitimiert.

Wenn ich von der „Schuld“ Europas spreche, ist vor allem „Mitteleuropa“ gemeint (und auch die „Linke“ in dieser Region, so weit es sie noch gibt), dessen einigende Kultur gerade heute oft beschworen wird. Denn Jugoslawien gehörte nicht nur geographisch zum großen Teil zu Mitteleuropa. (Die Bewohner rechnen traditionsgemäß das Land nördlich des Save-Donau-Dreiecks zu Mitteleuropa, den Rest zum Balkan.)

Stojan Cerovic, der bekannte Journalist der Belgrader Wochenzeitung Vreme, schreibt: „Im Zweiten Weltkrieg war Jugoslawien als Ideal noch ganz lebendig. Tatsächlich wäre es ohne die ganze Ideologie des internationalen Proletariats aus dem Krieg gegen den Faschismus niemals siegreich hervorgegangen. Jetzt ist es dazu gekommen, daß Titos Jugoslawien verworfen und geschmäht wird, wenn auch meist aus falschen Gründen. Das kommunistische Jugoslawien war trotz seines Einparteiensystems in vieler Hinsicht einem Europa näher als eine seiner heutigen Republiken, so viel diese auch von Demokratie und ihrer europäischen Orientierung sprechen mögen.“

Der Tito-Staat war politisch, kulturell und ideell von dem durchsetzt, was Mitteleuropa ausmacht. Das Erbe der Aufklärung, insbesondere der Anspruch auf individuelle Rechte (heute Menschenrechte genannt), dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung (Titos Reden 1942 und 1975), dem Anspruch auf soziale und gesundheitliche Sicherheit (Sozialstaat). Hinzu kommt, daß sich Jugoslawien der gleichen Lebens- und Verkehrsformen erfreut beziehungsweise unter ihnen gelitten hat wie Mitteleuropa, das auch einen beträchtlichen materiellen Beitrag leistete: massenhaft jugoslawische Fremdarbeiter nach Mitteleuropa, Massentourismus nach Dalmatien, eine vom Interesse am Pufferstaat getragene großzügige Kreditpolitik. Diese äußeren Faktoren erleichterten die Entstehung einer „europäischen“ Kultur; doch hatte Jugoslawien den europäischen way of life eigenständig als Lebensform gewählt.

Wie die europäischen Regierungen schenkte auch die Linke, der Ideologie des Kalten Krieges verschrieben, dem Ringen europäisch- fortschrittlicher und „asiatisch“- diktatorischer Kräfte in Jugoslawien keinerlei Aufmerksamkeit. Titos Jugoslawien lag in dieser und nur in dieser Hinsicht hinter dem Eisernen Vorhang.

Im ersten eindeutigen Zeichen zur Europäisierung, dem Buch „Die neue Klasse“ (1953) von Milovan Djilas, wurde der im antifaschistischen Krieg siegreiche Staat seiner ideologischen Verkleidung beraubt. Der Autor mußte ins Gefängnis. Das Interesse der mitteleuropäischen Intelligenzia hatte keinen Einfluß auf die Politik; es blieb akademisch. Als man sich später alljährlich mit der „Praxis“-Gruppe in Korcula traf, wurde gegen das Fortbestehen der UDBA, einer Staatspolizei nach stalinistischem Vorbild, kein ernsthafter Protest laut. Als Tito und die Partei unter dem zunehmenden Druck nationaler Spannungen eine neue Verfassung mit weitgehender Eigenkompetenz der Republiken verabschiedeten, versäumte es Europa, seine Beziehungen zu diesen auszubauen. Weder die Regierungen noch ihre „linke“ Opposition hatten erkannt, welche Sprengkraft nationale Gegensätze haben.

Heute hofft Mitteleuropa auf eine Zivilgesellschaft, die es nie unterstützt hat, die nur in Slowenien existierte und die sonst überall auch in ihren Ansätzen durch autoritäre Kriegsregimes zerstört worden ist. Selbst wenn die beiden zu faschistischen Diktaturen entarteten Regimes in Serbien und Kroatien gestürzt werden sollten, ist zu befürchten, daß von Haß und Rachsucht getriebene Banden und Reste der Armee weiterhin ihre grausamen Kriege führen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß sich jener Teil Mitteleuropas, unmittelbar vor der Grenze der Festung Europa, in einen wirtschaftlich schwachen demokratischen Staat Slowenien und zwei ruinierte, aber noch immer machtgierige faschistische Staaten verwandelt.

Am Freitag, den 14. August, erscheint in unserer Reihe ein Text von Peter Handke.