ESSAY
: Wie schön war unsere Diktatur

■ Von denen, die dem Kommunismus nachweinen

Dem kommunistischen Deutschland nachtrauern, das scheint ein Widersinn — und doch, das gibt es. Und es gibt sogar im Westen Deutschlands einige einflußreiche Sympathisanten dieser Nostalgie. Die Hochburg jedoch ist Ost-Berlin, wenngleich die Bewegung der Nostalgiker mit einem gewissen Erfolg auch außerhalb Berlins, in den neuen Ländern der Ex-DDR Gefolgsleute rekrutiert. Der Nostalgiker leidet Qualen, die er sich am Tag, da der Fall der Mauer gefeiert wurde, gar nicht ausmalen konnte. Und heute ist er felsenfest davon überzeugt, daß Westdeutschland Ursache all dieser Qualen, dieser gewaltigen Anpassungsschwierigkeiten ist. Die Wörter, mit denen Westdeutschland beschrieben wird, stammen kaum verändert aus dem sattsam bekannten Lexikon des kommunistischen Sprachgebrauchs, der wie durch ein Wunder wieder salonfähig wird: Die Westdeutschen haben ihre Cousins im Osten „kolonisiert“ und sind „kapitalistische Ausbeuter“, Profiteure, schamlos zerstören sie menschliche Existenzen. Sie sind unerträglich „kalt“, ohne jede „menschliche Wärme“, „bar jeden Sinns für Werte“ und unfähig zu „Vertrautheit und echter Freundschaft“. Immer schon war der totalitären Sprache diese intimistisch- häusliche Wende zueigen: Wenn die gesellschaftlichen Bindungen zerreißen, dann zerfällt der gesellschaftliche Zusammenhalt zwischen den Individuen und an seine Stelle tritt die Geborgenheit von Kleinstgruppen wie Familien oder Glaubensgemeinschaften. Oder eben der Nischen, wie man in der DDR zu sagen pflegte. Die Gewöhnung ans Kollektiv stirbt überall im Osten zuletzt, und man muß nicht zur Nomenklatura gehört haben, um heute das Fehlen des Kollektivs zu spüren.

Nostalgiker und Kommunisten

Nicht notwendig ist der Nostalgiker ein Kommunist. Im Gegenteil, oft hat er das Regime, das ihn ein Leben lang eingemauert hat, verflucht, und für gewöhnlich ist er auch keine in der Gesellschaft besonders vorzeigbare Gestalt, denn es ist eine Qual, mit anzusehen, wie er sich mühsam durchschleppt. Seine neuen Repräsentanten jedoch, das sind Kommunisten, und wenn schon keine Kommunisten, dann deren Kollaborateure. Die Bewegung der Nostalgiker ist eine Idee von Gregor Gysi und von Peter-Michael Diestel sowie von zufälligen intellektuellen Weggefährten wie Stefan Heym. Die Bewegung hat bereits ein Netzwerk von Komitees für Gerechtigkeit in ganz Deutschland gegründet, deren Ziel es ist, die schwer beschädigten Interessen des Kollektivs DDR zu vertreten. Um an ihnen teilzunehmen, sind keine spezifischen Überzeugungen verlangt: Wichtig ist es, eine Front zu schaffen und einen gemeinsamen Gegner zu haben, sagen die Verantwortlichen der Komitees.

Die Front ist ein Dach, unter dem alle Familien Platz haben. Es ist eine Volksfront, die vielleicht von den Kommunisten hegemonisiert wird, aber nur deshalb, weil die so gut im Organisieren sind. Diese Legende ist nicht neu, und wer sein Gedächtnis nicht verloren hat, der erinnert sich, daß die kommunistischen Regimes auf eben diese Weise entstanden. Noch ein Vorzug: Die Chefs der Komitees verbalisieren problemlos das, was die, die leiden, nicht auszudrücken vermögen. Und anders als der Nostalgiker an der Basis ist der Chefnostalgiker salonfähig. Ja, er ist ein Salonlöwe. Von Gysi sagt man sich, er sei nicht nur intelligent, sondern auch verführerisch, wenn nicht gar sexy. Idem von Diestel. Und auch das ist nicht neu. Der Salonbolschewik ist eine bekannte Figur der deutschen Zwischenkriegsgeschichte.

Wer will heute noch der untergegangenen Realität von Unterjochung, Feigheit und Spitzelei ins Auge sehen, einer Geschichte, die einmal DDR hieß? „Die Stärke dieser Gerechtigkeits-Bewegung“, so sagt mir David Gill, ein Aktivist aus der Zeit von 89 und jetziger Mitarbeiter der Gauck-Behörde, „besteht in der totalen Loslösung von der Realität. Und das entspricht im übrigen ja auch dem in der deutschen Geschichte immer wiederkehrenden Wunsch zu vergessen. Fast alle führenden Mitglieder der Komitees sind gegen die Offenlegung der Akten, sie wollen die sofortige Schließung der Archive und sind solidarisch mit denjenigen, die aus leitenden Stellungen entfernt wurden, weil man sie als Agenten enttarnte“.

Schlechtes Gewissen als Motiv im Westen

Was die Sympathien in Westdeutschland angeht, so liegt das Motiv dafür in vielen Fällen auf der Hand: Auch im Westen gibt es — wegen der über so lange Zeit gewährten Unterstützung für die DDR und der offen gezeigten Abneigung gegen die Dissidenten in Polen und der Tschechoslowakei — ein schlechtes Gewissen. Und wer ein schlechtes Gewissen hat, der ist nicht minder stark der Versuchung des Vergessens ausgesetzt. Dem gegenüber David Gill: „Eine Gesellschaft wird dann selbstverantwortlich, wenn sie eine lebendige Erinnerung pflegt, nicht dann, wenn sie das Gedächtnis mit einem Maulkorb versieht. Wenn wir das tun, dann werden wir weder mit dem Nationalsozialismus noch mit dem Kommunismus fertigwerden: Die ganze Nation wird zum Träger von Schuld, und es wird nicht die geringste Spur der unterschiedlichen Formen des Widerstandes mehr geben.“

Gerade das aber ist das Charakteristikum der neuen Bewegung von Gysi und Diestel: die Weigerung, die beiden totalitären Systeme zu vergleichen, die halbseitig gelähmte Erinnerung, die sehr wohl das Gedenken an die Grauen der Nazis bewahrt, die aber das Gedächtnis für die Erfahrungen des Kommunismus vollkommen verloren zu haben scheint. En bloc für schuldig erklärt, wird die Nation am Ende auch en bloc entlastet, und alle zusammen werden zum Opferkollektiv: Ein Kollektiv, das kraft der Verhältnisse in der Ex- DDR dazu neigt, die vorhandenen Schwierigkeiten nicht den tatsächlichen Verantwortlichen des kommunistischen Desasters anzulasten, sondern dem arroganten deutschen Kolonisator aus dem Westen. Von hier aus ist der Schritt nicht mehr weit zu der Behauptung, das Ganze sei nur möglich, weil in Westdeutschland der Nazismus überlebt habe.

Auf eben dieser Grundlage zimmern die Gründer der Komitees an einem zweiten Märchen: der rührenden Geschichte ihrer eigenen Verfolgung durch das ewig böse Deutschland. Das ist der Fall von Stefan Heym, der im Restaurant eines Hotels von einem Ex-Häftling aus der DDR, der nach Amerika geflohen war, eine Ohrfeige erhielt. Der Emigrant hatte den Schriftsteller lautstark beschimpft, nachdem er ihn erkannt hatte, und war dafür von diesem brutal zurechtgewiesen worden: „Im Krieg gegen die Faschisten hätte es gut sein können, daß ich ihren Vater erschoß. Das wäre nicht gut gewesen, aber ich hätte heute keine Probleme mit ihnen.“ Das ist die unduldsame Reaktion eines Altstalinisten — wer im Kommunismus im Gefängnis saß, der muß ein Faschist gewesen sein — und sie brachte den Emigranten in Rage. Es folgte die Ohrfeige, und flugs protestierte das Komitee für Gerechtigkeit: Heute werden in Deutschland wieder Schriftsteller geschlagen, meldete sich Gysi zu Wort — und vergaß wie die Dissidenten von der Partei behandelt worden waren, in deren Diensten er immer stand. Und die Zeitung seiner Partei, das Neue Deutschland, fragt sich, wie lange es wohl dauere, bis der Reichstag wieder brennt, so als ob sie gar nicht wüßten, was historischer Kenntnisstand ist: der Reichstagsbrand war zwar den Nazis hochwillkommen, aber dennoch waren sie nicht seine Urheber.

Aber die historische Wahrheit spielt für die Front der Verdammten dieser Erde aus dem Osten keine Rolle. Interessanter ist es aus ihrer Sicht, eine Atmosphäre á la Weimar zu schaffen, um die Schwäche, wenn nicht gar die Nutzlosigkeit der demokratischen Institutionen heraufzubeschwören. Er fühle sich wie im Dritten Reich, sagte Heym. Und Fink, der Ex-Rektor, vergleicht die Untersuchung seiner Vergangenheit als Spitzel mit den Judenverfolgungen. Er frage sich, ob er sich jetzt nicht Heiner „Stasi“ Fink nennen müsse, so Fink auf einer Pressekonferenz der Komitees in Anspielung darauf, daß die Juden im Dritten Reich ihrem eigenen Namen den Zusatz Sarah oder Israel hinzufügen mußten.

Das Spiel mit Analogien

Es bleibt noch zu klären, welches die zugrundeliegenden Motive für den Erfolg von Gysi sind. Kein Zweifel, die Ostdeutschen machen in der Tat etwas durch, und da sie den Eindruck haben, man schenke ihnen kein Gehör, suchen sie Zuflucht bei den Demagogen, wie das überall in Osteuropa geschieht. Wozu soll man sich noch mit der Nomenklatura befassen, wo sie doch von allen für tot und besiegt erklärt wird? Welchen Gewinn hat man von einer Selbstprüfung, von einer Erforschung der eigenen Verantwortlichkeiten? Da hält man sich besser an die, die noch leben, und impft ihnen zumindest eine gute Portion schlechtes Gewissen ein. Wenn dein Schicksal als unmündiges Opfer schon unausweichlich ist, dann kämpft man am besten gegen das ganz andere: gegen den Fremden oder gegen die reichen Kapitalisten aus dem Westen, je nach dem Extremismus, für den man sich nun entscheidet.

Und in Zeiten der Krise, da blühen die Lügen. Erich Honecker schrieb, es habe zu seinen Zeiten zwar keine Bananen in der DDR gegeben, aber man habe besser gelebt als in der BRD. Das sind Lügen, auf die die politische Klasse in Westdeutschland die Antworten schuldig bleibt, denn sie selbst hat, ohne es zu wollen, die Voraussetzungen für das Aufblühen dieser Lügen mitgeschaffen. Es sei ein Fehler der politischen Klasse in Bonn gewesen, so der Publizist Klaus Hartung, zu meinen, man könne aus dem Totalitarismus durch Entschädigungen herauskommen. Statt dessen wäre auf dem Akt der Befreiung zu insistieren gewesen, den 1989 bedeutete. Das ist in der Tat ein fataler Irrtum, denn er schürt bei den Leuten die Vorstellung, sie würden einen Verlust erleiden und eine Katastrophe erleben, an der die Westdeutschen schuld sind, die nicht genug zahlen.

Westdeutschland ist ja so frostig, undankbar und in zusammenhanglose Bruchstücke zersplittert! Und was tut die Gauck-Behörde anderes, als Kollektive zu zerstören, Familien zu zerreißen, in deinem Ehemann, dem Nachbarn oder dem besten Freund den Spion zu wittern? Demokratie beginnt mit der Entfremdung, aber genau die Sprache dieser Entfremdung fehlt heute in Deutschland. Vor allem fehlt sie bei den Verängstigten, und die Einheitsbewegungen — die die ganze Gesellschaft repräsentieren und es nicht bei der Repräsentation eines Teils derselben belassen wollen — setzen eben auf diese Angst. Schon ein Potentat hatte gesagt, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch das deutsche Volk. So sprachen auch die Kommunisten. Jedesmal ging es um Wärme und Geborgenheit gegen den grauen Alltag der Demokratie und den Frösten des contrat sociale. So wurde der Vater zum allgewaltigen Paten, die Familie zum Gefängnis und die Kinder zum durch die Stasi überwachten Insassen. Barbara Spinelli

Die Autorin ist Paris-Korrespondentin von „La Stampa“. Übersetzung aus dem Italienischen: Ulrich Hausmann (aus „La Stampa“, 25.7.92)