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„Ich laufe fort, aber sie sind immer da“

Seit fünf Jahren lebt Joao Matias aus Guinea-Bissau in Ost-Berlin/ Viermal in den letzten beiden Jahren wurde er von Ausländerfeinden brutal zusammengeschlagen/ Seitdem ist für ihn der Alltag in Deutschland zum Alptraum geworden  ■ Von Annette Rogalla

Berlin ist für Joao Matias (Name geändert, d.R.) zum Käfig geworden. Wie ein Vogel fühlt er sich, der nur wenige Flügelschläge machen darf. Von der Wassertränke zum Freßnapf, von der Holzschaukel zum Ruhestab. Kurze, wohlüberlegte Wege führen Joao durch den Tag. Früh um halb acht verläßt er das Haus, fährt mit der S-Bahn zum Tiermedizinischen Institut der Humboldt-Universität, kommt ohne Umweg zurück, wenn möglich nie nach Einbruch der Dunkelheit. Er fragt niemanden mehr nach dem Weg, geht nicht mehr ins Kino, nicht mehr in die Diskothek. Auf Straßen und Plätzen lauert das Risiko, vor allem aber in Bus, U- Bahn und S-Bahn. Nach achtzehn Uhr steigt die Wahrscheinlichkeit, überfallen zu werden. Viermal wurde er in den vergangenen Jahren angegriffen. Jedesmal geschah es im Ostteil Berlins, jedesmal im Hellen, jedesmal traf er die Täter zufällig, immer war Rassismus ihr Motiv. Joao Matias, 31 Jahre alt, hat eine schwarze Hautfarbe. Als er vor fünf Jahren nach Berlin kam, hatte er ein Stipendium seines Landes, Guinea- Bissau. Damals bot ihm die DDR die Chance seines Lebens, seit der Vereinigung ist Berlin für Joao zum Lebensrisiko geworden.

„Täter nicht zu ermitteln“

Dreimal schlugen Jugendliche Joao nieder, beim vierten Überfall waren es zwei Familienväter. Die Polizeiakten nahmen „schwere Körperverletzungen“ zu Protokoll. Joao hat die Serie der Grausamkeiten präsent, Alpträume, die wiederkehren: „Ich kann mich nicht wehren, laufe fort, aber sie sind immer da. Ich sehe die Gesichter der Angreifer nicht, spüre sie nur.“ Wieder und wieder durchlebt Joao den ersten Überfall, der schwerste. Auf den Monat genau liegt er zwei Jahre zurück. In Marzahn wartet Joao Matias auf die Straßenbahn. Gedanklich hängt er noch dem eben zu Ende gegangenen Geburtstagsfest nach. Es ist ein warmer Morgen, halb fünf. Aus der Straßenbahn steigt eine Gruppe Jugendlicher aus, es mögen zehn gewesen sein, Joao hat sie nicht gezählt. Sie bemerken ihn erst, als er schon im Waggon sitzt und die Tür sich schließt. „Greift den Neger“, brüllen sie, trommeln mit Fäusten gegen die Türen. Der Fahrer öffnet. Sie zerren Joao aus der Bank, werfen ihn zu Boden, treten und schlagen nach Herzenslust zu. Schließlich schleifen sie ihn auf die Straße. Die Straßenbahn fährt los. Erneut fallen sie über Joao her. Wie lange es dauert, bis ein Taxifahrer anhält, weiß er nicht. „Der Fahrer war meine Rettung. Er stieg aus und hat sie angeschrieen. Da sind sie weggerannt. Ich weiß, sie hätten mich umgebracht.“ Im Bezirkskrankenhaus von Lichtenberg kurieren Ärzte die Magenblutung, kühlen Augenschwellungen und Prellungen. Die Polizei aber rufen sie nicht, obwohl Joao danach verlangt. In der Charité heben Chirurgen die eingetretenen Jochbeine wieder an. Erst nachdem er einigermaßen wieder hergestellt ist, kann er der Polizei den Überfall zu Protokoll geben. Die forscht noch nicht einmal nach dem Fahrer der Straßenbahn, sondern schreibt vier Wochen später, daß sie den „Täter nicht ermitteln“ konnte. „Verfahren leider eingestellt“.

Unfähige Ermittler, arrogante Amtsbriefe und Polizisten, die entweder überhaupt nicht oder erst zwei Stunden später am Tatort eintreffen und dies mit ihrem unsicher gewordenen Arbeitsplatz begründen. In der Neuorganisation des behördlichen Ost-Alltags werden rassistische Überfälle selten mit Priorität behandelt. Längst ist Joaos Vertrauen in die Gesellschaft geschwunden. „Wenn Rassisten Menschen fast totschlagen wie in Hoyerswerda und mit einer Bewährungsstrafe davonkommen, fühle ich, wie ich schutzlos werde. Wen wundert es, wenn sie uns Ausländer als Freiwild ansehen? Ein bißchen Strafe nehmen Rassisten allemal in Kauf.“ Joao hat kapituliert vor der politischen Wirklichkeit der erweiterten Bundesrepublik, in die er sich nicht einmischen will. „Welche Rechte habe ich denn?“ Ganz gelassen sagt er das. Kein Aufbegehren in der Stimme, mit einem Achselzucken schluckt Joao die Wut herunter, die trotzdem aufziehen will. Durchhalten, noch anderthalb Jahre aushalten, bis die Zusatzausbildung in Tropenmedizin beendet ist. Joao Matias kapselt sich ein, hat den Rückzug in sein Studium gewählt. Seine Freizeit verbringt er fast ausnahmslos im Studentenwohnheim, das für 1.200 Menschen konzipiert wurde. In dem Betonquader stehen ihm exakt 9,2 Quadratmeter zu.

Praktische Solidarität widerfährt Joao bei den Überfällen sehr selten. Oft wird er mit der Ignoranz derer konfrontiert, die sich die Ohren zuhalten und denen Arme und Beine lahm werden. Nur hingucken, das tun alle. Der letzte Überfall. Nachmittags um vier an der Bushaltestelle, Berlin-Mitte. An eine Straßenlaterne gelehnt, liest Joao Zeitung, als ein Trabant anhält. Der junge Beifahrer lehnt sich zum Fenster hinaus und ruft: „Eh, Neger.“ Als Joao instinktiv hochblickt, bekommt er eine Ladung Reizgas direkt in die Augen gesprüht. „Etwa dreißig Leute standen herum, alle haben es gesehen. Aber niemand hat sich die Autonummer notiert, keiner ist zu dem Auto gelaufen.“

Ihr Schweigen verstärkt die Angst

Das Schweigen derer, die zuschauen, verstärkt jedesmal die Todesangst, in die Joao gerät. Sind sie für ihn Rassisten? „Manchmal frage ich mich, wer schlimmer ist. Die, die zuschauen und gar nichts tun oder die, die mich überfallen. Beides ist so unmenschlich.“ Daß sie einfach dastehen und zuschauen, wie ein Mensch überfallen wird, will Joao nicht in den Sinn. „Wieso haben dreißig Leute Angst vor ein, zwei Jugendlichen? Oder denken sie genauso, trauen sich aber nicht, selber zuzuschlagen?“ Wer schweigt, toleriert. Verweigerte Hilfeleistung erklärt sich Joao als pervertiertes Sozialverhalten in der Großstadt, die egoistisch mache. Ein ähnliches Verhalten in Guinea-Bissau wäre undenkbar. Das Land hat nur eine Million Einwohner, jeder kennt jeden. Das Netz der sozialen Kontrolle ist dicht gewebt. „Aber das allein ist es nicht“, sagt Joao, „bei uns sind die Leute bettelarm, trotzdem erschlagen sie keinen Fremden.“

Wie sollte Joao sich machtgeilen Deutschen gegenüber wehren? Zurückschlagen, was er doch mitunter „gerne täte“, untersagt er sich. Schließlich will er seine Studienerlaubnis nicht gefährden und eine abgebrochene Ausbildung riskieren.

In Ost-Berlin geht er so gut wie gar nicht mehr aus. Nach West-Berlin fährt er nur ins Kino, wenn Freunde ihn mit dem Auto abholen und wieder zurückbringen. Seit der Vereinigung ist Berlin für Joao kleiner statt größer geworden. Nach den Überfällen hat er in der Stadt Tabuzonen markiert. Stadtteile, die er meidet. „Nach Marzahn würde ich unter gar keinen Umständen mehr fahren, selbst nicht, wenn ich dort eine Freundin hätte. Auch Lichtenberg ist tabu. In diesen Ost-Bezirken passiert am meisten.“

Der Bahnhof Lichtenberg ist ein Verkehrsknotenpunkt, ein Umsteigebahnhof mit Anschluß an Fernbahnzüge. Lichtenberg ist auch bekannt als Skinhead- und Neonazi- Treffpunkt. Ausländer werden häufig im Bahnhofsbereich angegriffen. Mittlerweile hätten sie den Bahnhof aber wieder unter ihrer Kontrolle, sagen Bahnpolizei und BGS.

Ortstermin mit Joao an einem Sonntagnachmittag. Erhöht in einem Glashäuschen sitzt der Zugabfertiger. Er hat den S-Bahnsteig voll im Blick. Frage an ihn: Wie steht es um die Sicherheit der Fahrgäste? Heiko B., Reichsbahnbeamter, lacht: „Ich will nicht übertreiben, aber wir hängen immer hinterher. Bis die Polizei aus ihrem Bahnhofsbüro hier ist, vergehen doch mindestens zehn Minuten. Das dauert viel zu lange. Und dann kommen die ganz gemütlich hier anmaschiert.“ Nachmittags ab 17 Uhr fahren zuweilen „Sicherheitsteams“, wie sie sich nennen, auf den S-Bahn-Zügen. Für wenige Stationen zeigen zwei uniformierte Männer mit Walkie-talkie und ein abgerichteter Hund Präsenz. Wie verhielten sich Peter S. und Jürgen W., würden sie Zeugen eines Angriffs? „Na, Eingreifen, Festhalten, Überführen — wie es unsere Aufgabe ist.“ Und wenn die Angreifer zu mehreren wären? „Zentrale über Funk benachrichtigen, die holt Verstärkung.“ Solange müßte die S- Bahn am nächsten Bahnhof warten. Daß Mitreisende sich bei einem Überfall einmischen, haben die Wachleute noch nicht erlebt. „Eigentlich sind sie doch auch hilflos“, resümiert Joao. Die Wachleute nicken. Sporadisch auftauchende Schutzleute mit Hund ändern nichts an der alltäglichen Bedrohung.

In anderthalb Jahren wird Joao Matias nach Guinea-Bissau zurückkehren. Solange wird Gewalt allgegenwärtig für ihn sein. Bis zu seinem Rückflug wird ihn ein Gefühl begleiten — Angst: „Wenn ich Glück habe, kehre ich gesund zurück. Ich fürchte mich vor einem neuen Überfall. Es wäre der fünfte. Manchmal denke ich: Vielleicht werde ich den nicht überleben.“

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