"Schau du bist blind"

■ Mit einer Ausstellung des Schweizer Künstlers Remy Zaugg feiert der Hamburger Kunstverein sein 175jähriges Bestehen

feiert der Hamburger Kunstverein sein 175jähriges Bestehen

Der älteste Kunstverein Deutschlands, der Hamburger Kunstverein, feiert seinen 175jährigen Geburtstag mit einer Ausstellung des Schweizer Künstlers Rémy Zaugg in der südlichen Deichtorhalle. Es habe keine dieser langweiligen Jubiläumsausstellungen werden sollen, sagt Stephan Schmidt- Wulffen, seit Januar 1992 amtierender Direktor des Kunstvereins. Deshalb die Idee, ein aktuelles Konzept mit einem Rückblick auf die Geschichte des Kunstvereins zu verbinden, erklärt Schmidt-Wulffen, der nach der „Gegendarstellung im Zeitalter von Aids“ eine weitere wichtige und spannende Ausstellung in Hamburg zeigt.

„Jetzt du hier“ empfängt ein Schriftzug den Besucher im Eingang der Ausstellungsräume. „Schau du bist blind“, verraten ihm weitere Tafeln gleich in verschiedenen Sprachen. Zauggs zentrales Thema ist die Wahrnehmung, die, ziemlich degeneriert, neu belebt und sensibilisiert werden muß.

So beginnt zunächst Zauggs Parcours der Blindheit, das Lesen seiner Bilder ist mühsam: Helle Buchstaben, zum Teil per Siebdruckverfahren, zum Teil mit dem Pinsel auf helle Flächen aufgebracht, bilden einen minimalen Kontrast. Auf den Leinwänden formuliert sich der Verlust des Sehvermögens: „verbraucht, verwischt“ und „Die Blindheit wahrnehmen.“

Konsequent wird die Verunsicherung vorangetrieben: „Stell dir vor du schaust das Bild an und augenblicklich ist das Bild blind“, sagt das Bild (oder der Künstler?). Wie durch ein Spiegelkabinett irrt der Besucher durch den Raum, nirgends wird seine Wahrnehmung absorbiert, nur kreuz und quer zurückgeworfen.

Nicht nur der Betrachter ist thematisch bei sich selbst angelangt: In einem zentralen Ausstellungsraum zeigt sich Lovis Corinth, dem der Hamburger Kunstverein die letzte Ausstellung zu Lebzeiten des Malers ausrichtete, in vier Selbstbildnissen. Die Bilder sind entrahmt und hinter dem Glas hervorgeholt. „Vielleicht bist du nicht hier“ eröffnen die zwischen die Selbstporträts von Corinth gehängten Wortbilder Zauggs - in der Selbstwahrnehmung konstituiert sich noch lange nicht die Wirklichkeit.

„Das Selbstbildnis“, sagt Rémy Zaugg, „hat mit dem Betrachter zu tun“, und er führt jenen in einen Raum, an dessen Stirnseite weitere Selbstporträts hängen, unter anderem von D.E.Andreae und Anita Rée. Ein frisch in die Mauer gebrochenes Fenster eröffnet den Blick auf eine Brücke, die Kasematten, den Kanal. „Eisenbahnbrücke“, „Wind“, „Himmel“ ist in großen Lettern draußen an den Brückenpfeilern angebracht. Das, so Rémy Zaugg, sei das „ungemalte Selbstbildnis, denn indem der Betracher die Landschaft wahrnimmt, schafft er sein Selbstbildnis.“

Auch seine Arbeit an der eigenen Wahrnehmung hat Rémy Zaugg ausgiebig betrieben, wie seine Bilder im westlichen Teil der Halle zeigen. In 27 Skizzen untersuchte er Paul Cézannes Bild Haus des Gehenkten. Radierungen seiner Skizzen, in denen er den Aufbau des Bildes in einer Art Wort-Zeichnungen festhielt, treffen in ihrer Chronologie schließlich auf Bilder des Hamburger Landschaftsmalers Valentin Ruths. Eine Aufforderung, die Wahrnehmungsanalyse hier weiterzutreiben. Wohin soll die führen? „Zu nichts“, sagt Rémy Zaugg. „Man lebt ja vielleicht nur, um das Nichts zu überprüfen.“ Mechthild Bausch