DEBATTE
: Politische Justiz im Rechtsstaat

■ Zur Strafsache gegen Honecker und Konsorten

Politik im Gerichtssaal? Der bloße Gedanke jagt den Schildknappen des deutschen Rechtsstaates Schauer des Entsetzens über den Rücken. Glaubt wirklich jemand vollen Ernstes, gegen den ehemaligen Chef des ostdeutschen Konkurrenzstaates ließe sich richten „wie gegen jeden anderen“? Nun, da Honeckers Odyssee ein diplomatisch gesalbtes Ende gefunden hat, kommt auf die Strafjustiz ein veritabler politischer Prozeß zu. Genau den aber mag offensichtlich niemand führen. Warum eigentlich?

Die Abgrenzungsrituale, einerlei ob sie als Beschwichtigung oder als Vorwurf daherkommen, beruhen im Kern auf einem Mißverständnis über den Begriff der politischen Justiz. Der demokratische Verfassungsstaat unterscheidet sich grundlegend von Polizeistaaten oder totalitärer Herrschaft — und hat doch eines mit ihnen gemeinsam: bestimmte Formen der politischen Justiz. Diese tritt keineswegs nur in Gestalt von Schauprozessen auf.

Die „Verwendung juristischer Verfahrensmöglichkeiten zu politischen Zwecken“ — mit dieser allgemeinen Formel hat Otto Kirchheimer in seinem Standardwerk „Politische Justiz“ (deutsche Erstausgabe 1965) deren Begriff resümiert. Er unterscheidet vier Arten der politischen Strafjustiz:erstens die strafrechtliche Verfolgung gewöhnlicher Delikte, wobei nur die Person des Angeklagten und seine Motive einen Bezug zum Politischen haben;zweitens die „klassischen“ politischen Delikte des (gewaltsamen) Hoch- und Landesverrates; drittens die im 20. Jahrhundert zunehmenden Delikte der Staatsgefährdung, mit denen bereits als gefährlich eingestufte politische Ziele verfolgt werden (ideologischer Staatsschutz); viertens schließlich das „politische Kunstdelikt“, also die Konstruktion eines fiktiven Zerrbildes der Wirklichkeit, das gegen einen Angeklagten synthetisch fabriziert wird (Schauprozesse).

Es liegt auf der Hand, daß die im Verfahren gegen Honecker unter anderem angeklagten Tötungsdelikte der ersten Kategorie unterfallen. Hier, im unscheinbaren Bereich regulärer Straftaten, ist es mangels objektiver Kriterien häufig schwer, eine Form der politischen Justiz zu erkennen. Die „Jünger des unbefleckten Rechts“ (Kirchheimer) ziehen sich gern hinter diese Oberfläche des normalen Justizbetriebes zurück.

Im Fall der Todesschüsse an der Mauer ist indes der Bezug zum Politischen evident. Sie wurden im öffentlichen Dienst als Exekution des staatlichen Gewaltmonopols ausgeführt. Honecker und andere hochdekorierte Politiker sind angeklagt, gleichsam als dirigierende Täter vom Schreibtisch aus mitgeschossen zu haben. Der Strafprozeß gegen sie dient also Zwecken der Abrechnung mit den SED-Schandtaten — ein klarer Fall politischer Justiz.

Auch Laien leuchtet ohne rechtstheoretische Unterweisungen ein, daß die Mitglieder einer „kriminellen“ Vereinigung, die sich eine Zeitlang als Regierung behaupten, am Ende nicht nach den allgemeinen Geschäftsbedingungen, die sie sich selbst gegeben haben, zu überführen sind. Eben dieses Kunststück aber verlangt bekanntlich der Einigungsvertrag, dem zufolge Tatortrecht, mithin Strafrecht der DDR, Anwendung findet.

Der Tötungsparagraph als solcher ist nicht das Problem. Denn Töten war auch in der DDR verboten — im Prinzip. Gestritten wird vielmehr um jene „Rechtfertigungsgründe“, die eine an sich verbotene Tötung unter bestimmten Umständen als nicht rechtswidrig qualifizieren. Nach den strafrechtlichen Standards im Westen zählen auch solche Rechtfertigungsgründe zum Bereich des Art. 103, Abs. 2 des Grundgesetzes. Demnach ist die Anwendung rückwirkender Normen kategorisch ausgeschlossen: kein Verbrechen, keine Strafe ohne vorheriges Gesetz.

Eben deshalb ist man in Sachen SED-„Unrecht“ in die Klemme geraten: Denn dieser Systematik zufolge müßte das Grenzgesetz von der gesamtdeutschen Justiz als damals geltendes DDR-Recht angewandt werden. Mit der Konsequenz, daß lediglich Tötungshandlungen, die nicht durch dieses Gesetz gedeckt sind,Exzesse also, bestraft werden könnten. Im Urteil der 23. Strafkammer des Landgerichtes Berlin, das den ersten Mauerschützenprozeß beendete, wird daher auf jene Formel zurückgegriffen, die der sozialdemokratische Rechtsphilosoph und -politiker Gustav Radbruch entwickelte. Er, der vor dem Krieg den Konflikt zwischen Recht und Gerechtigkeit zugunsten des ersteren, also positivistisch entschieden hatte, schrieb 1946 unter dem Eindruck des Nationalsozialismus: „Gesetzliches Unrecht“ liege dann vor, wenn der Gegensatz zur „Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat“.

Ulrich K. Preuß hat im Anschluß an Kirchheimer genau darin das Charakteristische „politischer Justiz“ gesehen: in dem inneren Widerspruch, „daß ein gerichtliches Urteil gleichzeitig eine Erkenntnis über das geltende Recht und darüber, welches Recht gelten soll, darstellt. Daß dabei das Rückwirkungsverbot überspielt wird, liegt auf der Hand. Auch das Bundesverfassungsgericht hat zwar gelegentlich mit der Radbruch- Formel operiert, in keinem Fall jedoch das Rückwirkungsverbot zu Lasten eines Verurteilten beseitigt. Solange die Justizgrundrechte ungeteilt gelten, kommen auch jene in deren Genuß, die diese Rechte, das heißt stets auch: Menschen mit Füßen getreten haben.

Die grundlegende Alternative lautet daher: Honecker und die Seinen entweder nach DDR-Strafrecht unter Beachtung der Verfassung weitgehend ungeschoren zu lassen — oder eben mit der qualifizierten Mehrheit des Verfassungsgesetzgebers Art. 103, Abs. 2 GG einzuschränken, damit für bestimmte SED-Untatenrückwirkendes Sonderrecht statuiert werden kann. Es gilt also, mit kühlem Kopf die politische Frage zu diskuieren, was uns wichtiger ist: das Rückwirkungsverbot der Verfassung oder die halbwegs effiziente Bestrafung des SED- Spitze und ihrer subalternen Handlanger. Die besseren Gründe sprechen meines Erachtens für die strikte Beibehaltung der Verfassungsgarantie.

Wer im übrigen, ungeachtet der Vagheit der Radbruch-Formel und der gravierenden Unterschiede zwischen NS- und SED-„Unrecht“, bei dieser Formel Zuflucht sucht, darf redlicherweise eines nicht unterschlagen: daß damit das verpönte Sonderstrafrecht durch die Hintertür eingeführt wird. Demgegenüber verdienen Parlamentsbeschlüsse allemal den Vorzug — weil sie demokratisch legitimiert und öffentlich sind. Fragen von außergewöhnlicher politischer Brisanz dürfen nicht dem Arkanum richterlicher Beratungszimmer überantwortet werden.

In Sachen Regierungskriminalität besteht die Probe auf den Rechtsstaat also nicht darin, ob ein richterlicher Prozeß geführt wird, sondern vielmehr,wie dieser veranstaltet wird. Ein wenig Mut zur politischen Justiz bräche dem deutschen Rechtsstaat keine Zacke aus der Krone. Gerade „weil Justiz in politischen Dingen so viel schwindsüchtiger ist als in allen anderen Bezirken der Rechtsprechung, weil sie hier so leicht zur Farce werden kann“, wie Kirchheimer sagt, kommt alles darauf an, ihre Ungereimtheiten offen und illusionslos zu diskutieren.

Regierungskriminalität, die gleichsam höchste Stufe des organisierten politischen Verbrechens, läßt Sondergesetze durchaus diskutabel erscheinen. Wer dagegen die politische Unschuld des Rechtsstaates zu bewahren vorgibt, indem er die ehemals Staatsgewaltigen durch eine moralisierende Aushebelung des Rückwirkungsverbotes zur Strecke bringt, verrät beides: das Ethos der Unverbrüchlichkeit der Verfassung ebenso wie eine rationale Rechtspolitik gegen die, deren Sache das kriminelle Regieren ist. Horst Meier

Jurist und Autor, lebt in Hamburg