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Galgenfrist für die „Jamahirya“

Die vom UN-Sicherheitsrat gestern verlängerten Sanktionen gegen Libyen sind zwar im Lande kaum spürbar, doch Gaddafis Untertanen nehmen sie zum Anlaß, Fragen über die Zukunft aufzuwerfen  ■ Aus Tripolis Mustafa Abiad

„Nicht der Dinar legt die Eier, sondern das Hähnchen“ — „Nur die Kuh kalbt, aber nicht der Dinar“ steht auf großen Transparenten, die in Tripolis über die Straße gespannt sind. Ratlos frage ich einen Libyer, was es mit diesen Parolen auf sich hat. „Das sind die Worte unseres Führers Muammar el-Gaddafi, Gott schütze ihn. Unser Führer ist nämlich äußerst belesen in Philosophie und Geschichte. Und vor allem ist er natürlich selber ein großer Philosoph“, hilft mir Saad M., ein libyscher Intellektueller auf die Sprünge und weiht mich in die tiefere Bedeutung der Parolen ein: „,Geht in die Landwirtschaft‘, heißt das, ,statt eure Zeit mit nutzlosen Geschäften zu vergeuden.‘ Jahrelang waren Handel und Busineß Schimpfworte in Libyen. Der Führer wollte aus uns ein Volk von Produzenten machen. Aber was ist daraus in den 22 Jahren seit seiner Machtübernahme geworden? Gott sei dank haben wir wenigstens Öl, so daß wir mit unserem Dinar Eier und Kühe importieren können. Und das Wort Busineßman ist inzwischen zu einem Ehrentitel geworden.“

Zwar sind die Auswirkungen der soeben verlängerten Waffenlieferungs- und Luftblockade gegen Libyen minimal, mit deren Hilfe der UN-Sicherheitsrat seit April versucht, Gaddafi zur Auslieferung der beiden mutmaßlichen Lockerbie-Attentäter zu zwingen. Doch ist das Embargo für viele Libyer ein Anlaß, um alte Rechnungen mit dem Gaddafi-Regime zu begleichen. Die libysche Regierung hat Grund, sich nicht nur international isoliert zu fühlen.

„Unser Land ist so reich wie die Golfländer, aber wenn man sich umguckt, denkt man, man sei in einem armen Land der dritten Welt“, sagt Heitham, ein libyscher Student. „Libyen hat in den letzten 15 Jahren 230 Milliarden Dollar durch Ölverkäufe verdient. Das hätte gereicht, um das Land mit seinen drei Millionen Einwohnern in ein Paradies zu verwandeln. Aber das Paradies gibt es nur in Gaddafis „Grünem Buch“.

„Wir sind glücklich und stolz, in der Epoche des Grünen Buches und der Jamahiriya zu leben“, steht überall auf den Häuserwänden. Außer den Anhängern des Regimes trifft man aber nur selten auf „glückliche und stolze“ Menschen. Der Ruf nach einschneidenden Veränderungen wird lauter. Auf die Frage „Wie?“ herrscht jedoch verwirrtes Schweigen. Jahrelange Gehirnwäsche durch die Propaganda hat den Leuten die Vorstellungskraft geraubt, sich eine Alternative auch nur auszudenken.

1969 setzte eine Gruppe von jungen Offizieren den libyschen König ab. Einer von ihnen war der heute allmächtige Führer Muammar el-Gaddafi. Vorbild war der Ägypter Gamal Abdel Nasser. Er starb ein Jahr später. „Das Ende des Nasserismus in Ägypten hinterließ hier ein ideologisches Vakuum“, sagt ein arabischer Politiker, der seit langem in Libyen lebt. Gaddafi zehre seither von einem ideologischen Cocktail: „Ein bißchen Marx und Lenin, ein bißchen Platon, ein bißchen Koran — daraus wurde die ,Dritte Internationale Theorie‘. Aber vor allem hat ihn Maos Rotes Buch beeindruckt. Die Vorstellung von Millionen Menschen, die das Rote Buch schwenken, hat ihn auf die Idee gebracht, ein eigenes Buch mit eigenen Farben zu schreiben.“

Auch das Wort „Jamahiriya“ ist eine Neuschöpfung von Gaddafi, die sich aus dem arabischen Wort Jamahir ableitet, was „Massen“ bedeutet. In der neuen Gesellschaft sollten sich die Massen selbst regieren, ohne Parlament, ohne Parteien und ohne Präsident. Offiziell hat Libyen auch keine Armee. Der Führer hat sie aufgelöst: Die Erfahrung zeige, daß nur das bewaffnete Volk die Revolution verteidigen könne. Aus informierten Quellen hingegen hört man, daß mehrere Putschversuche dem Führer zu dieser Inspiration verholfen hätten. Mit der Umstrukturierung der Armee sollten seine Gegner liquidiert werden. Die einzig gut organisierten und bis an die Zähne bewaffneten Einheiten sind heute die Kataeb Al-Amn, „Sicherheitsbrigaden“, bei deren bloßer Erwähnung jeder Libyer ängstlich zusammenzuckt.

„Die Komitees sind überall“ — „Demokratie ist eine Lüge, und das Parteiensystem ist ein Betrug“ — solche Parolen liest man sogar noch auf den Restaurantquittungen. Die „Dritte Internationale Theorie“ kennt zwei Komitees, in denen das Volk sich organisiert: die „Volkskomitees“ und die „Revolutionären Komitees“. Erstere sind für die „Verwaltung der Gesellschaft“ verantwortlich, letztere sollen „die Revolution“ verteidigen.

„Die Komitees haben unser Leben zur Hölle gemacht. Sie kontrollieren alles und haben unbegrenzte Vollmachten. An der Universität kann es vorkommen, daß ein Student für eine ganze Fakultät verantwortlich ist, nur weil er Boß irgendeines der Revolutionskomitees ist. Die Professoren müssen machen, was er will. Manchmal müssen sie die Lehrpläne völlig umschmeißen, weil der Komiteechef dem Unterricht nicht folgen kann“, berichtet der Student Heitham.

Trotz hoher Investitionen in Industrie und Landwirtschaft wird im Lande nur wenig produziert, und das nur mit Hilfe von ausländischen Arbeitskräften. „Warum sollte jemand in der Fabrik arbeiten, wenn die Arbeit im Komitee doch weitaus mehr Vorteile hat?“ fragt Saad. Auf einer Fahrt in die Umgebung von Tripolis zeigt er mir kilometerlange Ländereien, die niemand bestellt. „Wir haben vier Millionen Olivenbäume. Trotzdem müssen wir Olivenöl und Oliven importieren.“

Den meisten Libyern ist es ziemlich egal, ob ihre beiden in der Lockerbie-Affäre beschuldigten Landsleute ausgeliefert werden. „Das einzige, was uns interessiert, ist, daß sich endlich etwas ändert“, sagt Saad. „Die Leute hier haben dem System eine Galgenfrist gegeben. Sie erwarten, daß Gaddafi am 1. September zum Jahrestag der Revolution tiefgreifende Änderungen ankündigen wird. Macht er das nicht, wird hier etwas passieren.“

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