»St. Pauli an der Spree«

■ Die Oranienburger Straße in Mitte hat zwei Gesichter/ Tagsüber kaum besucht, erwacht nachts ein Boulevard mit Straßenstrich, Künstlerkneipen und Szenemenschen

Die schärfste Atmosphäre der Stadt«, meint Tom. Und die verändert sich in der Oranienburger Straße wie an keinem anderen Ort Berlins, je nach Tages- oder Nachtzeit. Oder der Besucher rechnet in Wochen und ist überrascht, was sich während seiner Abwesenheit getan hat. Von einem »St. Pauli an der Spree, wie es Hamburg schon lange nicht mehr kennt« sprechen liebevoll die einen, andere schimpfen über den »Nuttenboulevard« und sagen ihm den »Charme einer unbeleuchteten Baustelle« nach.

An beidem ist Wahres dran. Gebaut wird fast überall. Die Neue Synagoge, 1938 in der »Kristallnacht« von den Nazis in Brand gesteckt, wird restauriert. Ihr glänzendes Kuppeldach ist wieder das weithin sichtbare Prunkstück der Oranienburger Straße. Das krasse Gegenstück ist die »Ruine Tacheles«, direkt an der Ecke zur Friedrichstraße. Im Februar 1990 hatten Künstler aus Ost und West das verwitterte Gebäude besetzt und zu einem alternativen Kulturzentrum erklärt. Zwischen dem ehemaligen »Haus der Technik« und der Synagoge sind die Bürgersteige aufgerissen, und allerlei Kabelwerk wird in die Gräben gepreßt.

In der Nacht zum 26. Mai brannte es wieder in der Oranienburger: Flammen loderten in den Dachstühlen der besetzten Wohnhäuser neben dem Tacheles. Peter, der sich seit zwei Jahren um die technischen Notwendigkeiten im Tacheles kümmert und in den Häusern wohnte, beschreibt den »dilettantischen Einsatz« der Feuerwehr: »Viel Zeit haben sie sich gelassen. Der erste Schlauch, den sie verwendeten, blutete aus allen Löchern. Bloß da, wo etwas rauskommen sollte, war es nur ein Rinnsal. Erst als das Feuer auf die nicht besetzten Häuser überzuspringen drohte, hat die Feuerwehr das innerhalb von fünfzehn Minuten in den Griff bekommen.« Seitdem sind die Häuser vom Bauamt gesperrt.

»Tagsüber ist sie ausgestorben, erst abends wird es interessant«, sagt Peter Bülow. Er wohnt seit 50 Jahren im Kiez. Sein Schreibwarenladen, den er seit 1984 betreibt, hat als einziges Einzelhandelsgeschäft die Wende überlebt. Er ist davon überzeugt, daß die Gegend dem Ku'damm den Rang ablaufen wird.

Wenn aus der Werkstatt des Tacheles die letzten Hammerschläge hallen und die Maler in den Ateliers den wichtigsten Pinselstrich des Tages setzen, nimmt die am Tage ruhige Straße ihr zweites Gesicht an. Gegenüber füllt sich langsam das »Obst und Gemüse«. Der ausgefallene Name der neuen Berliner Szenekneipe hat seine eigentümliche Entstehungsgeschichte: »Das Schild fand ich abartig häßlich. Ein paar Namen hatte ich im Kopf, aber keiner davon überzeugte mich. Dann wollte ich einfach mal sehen, ob ich die Farbe abbeizen kann. Ich stand schon auf der Leiter und habe rumgekratzt, da wurde mir klar, der Name muß bleiben«, erzählt Dominik Ries. Die »verrückte Mischung« seiner Gäste amüsiert ihn nach drei Monaten Betrieb immer noch: »Es fasziniert mich, wenn ich hier einen 50jährigen vom Prenzelberg neben einer jungen Charlottenburgerin im kleinen Schwarzen sehe, und die miteinander ins Gespräch kommen. Das passiert doch sonst nirgendwo. Und der Punk nebendran hört zu.«

Wenn die Prostituierten in der Dämmerung zu ihren Stammplätzen am Straßenrand schlendern, wird das Leben schriller, schneller; nur die Autos schleichen, und sobald es dunkel ist, stehen sie endgültig im Stau. Vor dem »Obst und Gemüse« ballen sich inzwischen Menschentrauben, oft bis auf die Straße. Markus fühlt sich sichtlich wohl: »Wenn die Nutten aufmarschieren, kommt der aufregendste Moment. Die Nacht wird eingeläutet, und die Straße bekommt auf einmal einen verruchten, lasziven Touch. Hier müssen sich die Ladies nicht in dunklen Ecken verstecken, als seien sie keine Menschen mehr. Außerdem sind die ja nun wirklich gut anzusehen.«

In Abständen von zwanzig Metern stehen die Prostituierten hinunter bis an den Monbijouplatz. In ihrem Aussehen ähneln sie sich, als hätten sie ihre Uniform durch eine Meinungsumfrage bei den Freiern ermitteln lassen: Stiefel bis zum Knie und neonfarbene Tangas, der sogenannte »Pretty-woman-Look«. Während sie sich in die Autofenster der haltenden Freier bücken, verdrehen sich die Flaneure den Hals. »Weiß ich nicht, was du magst!« raunt eine Hure in den dunklen Fond eines Mercedes. »Französisch kostet fünfzig, Verkehr im Auto achtzig.«

Vor einem Heizungs- und Sanitärladen im Souterrain sitzen die Monteure mit ihren Stühlen auf dem Bürgersteig, so wie es ihnen vom »Obst und Gemüse« vorgelebt wird. Sie stecken noch in den Blaumännern des vergangenen Arbeitstages. Eine Schöne der Straße hat sich zu ihnen gesellt, längst haben sie ihr einen Platz angeboten: »Wolfgang und Scholle können doch mitgehen«, scherzt einer. »Es gibt auch Dreibettzimmer«, lächelt sie Scholle an, der vor Schreck ganz blaß wird.

Hella Mewis von der »Galerie Silberstein« stört der Strich vor der Tür nicht: »Der gehört genauso zum Miteinanderleben wie die Kunst. Die Vermischung der kulturellen Kuriositäten bringt Spannung.« Das Silberstein bietet im Innenhof eine »Kunstmesse«. Dort können Künstler für kurze Zeit Ateliers mieten und ihre Arbeiten ausstellen. Finanzieren soll sich das über die gastronomische Abteilung des Silbersteins: »Das läuft gut«, meint Hella Mewis, die sich um das Kunstmanagement des »Silbersteins« kümmert, »nur der Kunstverkauf muß noch anziehen.« Neben einer nachdenklichen Statue sitzt Natalie und nippt an ihrem Weißwein. Sie zieht es in die Oranienburger Straße, weil die noch nicht »geglättet, nicht aufgesetzt und einfach nicht fertig« sei: »Hier muß zwangsläufig Neues entstehen. Toll kann es werden, wenn hier nichts kaputt saniert wird.«

Mit gemischten Gefühlen wird die Entwicklung der Straße inzwischen im Tacheles betrachtet. Durch die »Touristenschwemme« des Sommers fühlt sich mancher wie ein »Tiger im Käfig«: »Drüben im ‘Obst und Gemüse‚ stehen sie auf der Straße, gucken zu uns rüber und warten darauf, daß etwas passiert. Das ist Konsumentenpublikum, das mit Alkohol versorgt und ein bißchen unterhalten werden will«, sagt Peter.

»Schlicht und einfach eine Nuttenstraße«, ist die Oranienburger in den Augen des Jugendstadtrats von Mitte, Markus Zimmermann (CDU). »Der Strich dehnt sich doch immer weiter aus. Die stehen jetzt schon an der Friedrichstraße.« Mit einer helleren Beleuchtung will er das Treiben eindämmen, und für regelmäßige Razzien der Polizei plädiert er auch.

Am Dienstag führte die Polizei eine »ganz normale Verkehrskontrolle« durch. Gut gewählt schien zumindest der Ort, den sich die Beamten dafür ausgesucht hatte: Dort, wo die Prostituierten mit ihren Freiern zum Schäferstündchen parken, wartete schon die rote Kelle. Für die Schönen der Nacht war das an diesem Abend nicht die »schärfste Atmosphäre«. Ralf Knüfer