ESSAY
: Neue Ufer am Mittelmeer

■ Wirtschaftliche und ökologische Fakten drängen nach einem politischen Mittelmeer-Konzept, das über den euro-arabischen Dialog hinausgeht

Die Idee eines „Mittelmeer- Konzeptes“ basiert nicht auf der Annahme einer geschichtslosen Einheit, in der die gesellschaftlichen und politischen Besonderheiten innerhalb der Region überdeckt würden. Doch ist die Entwicklung einer gemeinsamen Identität nur insoweit möglich, als sie von realen politischen und kulturellen Kräften getragen wird. Wie sehen die Chancen dafür an den Ufern des Mittelmeers aus?

Früher erschien die Vorstellung vom „Mittelmeer“ eher im Norden als Projektion auf den Süden. Lange Zeit repräsentierte das Mittelmeer nicht viel mehr als eine eher nostalgische Erinnerung an die römisch- griechische Kultur, der einzig anerkannten Quelle europäischer Kulturtradition. Die arabisch-türkische Welt wurde in die Phantasmen vom „Orient“ abgedrängt, aber nicht als Teil einer gemeinsamen Kulturtradition ernst genommen. Ein Bewußtsein gemeinsamer Orientierungen hat sich kaum entwickelt.

Doch die Vorstellung von einem Mittelmeer-Raum erscheint mehr und mehr als notwendige Perspektive am Horizont, um die Beziehungen zwischen Orient und Okzident neu denken zu können. Denn in der Realität erweist sich das Mittelmeer entgegen allen Versuchungen kultureller Abkapselung, die von der einen wie der anderen Seite immer wieder drohen, als eine Region der Vermischung und gegenseitigen Kulturbeeinflussung, die eine Lebenswelt mit gemeinsamen Aspekten hat entstehen lassen. Insofern geht der Mittelmeer-Ansatz auch über den „euro-arabischen Dialog“ hinaus, der sich zu sehr auf einen Alibi-Kommunikationsaustausch beschränkt und die gemeinsame Verantwortung für ein und dieselbe Weltregion zu wenig berücksichtigt.

Die derzeitige Debatte über ein Mittelmeer-Konzept drückt die Suche aus nach einer vernünftigen Regelung auf der Basis einer komplexen Identität, die sich aufgrund von Bräuchen, Lebensweisen und Gewohnheiten, einem bestimmten Bezug zu Zeit und Raum, auch einem eigenen Lebensgefühl herausgebildet hat. Ihre verschiedenen Facetten gehen dennoch niemals in einer simplen Einheitlichkeit auf.

Man kann die Schäden, die der Golfkrieg im Mittelmeer-Raum verursacht hat, nicht oft genug betonen. Als wahrhaft traumatisches Ereignis hat er die Logik der Abgrenzung auf beiden Seiten verstärkt. Bereits vorher war allerdings das Vertrauen — und dies ist die unabdingbare Grundlage für jegliches Projekt — zwischen den Völkern am Mittelmeer infolge der trennenden Elemente gestört, die sich durch Kolonialgeschichte, ungleiche ökonomische und militärische Macht sowie die unterschiedlichen Wertesysteme herausgebildet haben.

Im Golfkrieg schlug insoweit die Stunde der Wahrheit, als jeder sich zu seiner Parteilichkeit bekennen mußte — und da erwies sich das Mittelmeer als eine Grenze. Die Spaltung war grundsätzlicher Natur, das Unbehagen erwies sich als tiefsitzend, und Vorurteile blühten auf. Doch das Mittelmeer stirbt nicht. Es bleibt eine Region verschränkter Lebenszusammenhänge, des Austauschs und der Gegenseitigkeit. So wird ein bewußtes Mittelmeer-Konzept heute unabdingbarer als jemals zuvor: eine notwendige Utopie, aus mehreren Gründen.

Fangen wir bei einer einfachen Tatsache an: Es ist kaum vorstellbar, daß sich die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Ufern des Mittelmeers noch längere Zeit ohne schwerwiegende Turbulenzen so fortentwickeln können: im Norden eine politisch stabile Einheit mit ökonomischem Wachstum und Bevölkerungsrückgang; im Süden dagegen ein politisches Durcheinander mit unsicheren wirtschaftlichen Perspektiven bei galoppierendem Bevölkerungswachstum (auch wenn hier in jüngster Zeit eine Verbesserung zu verzeichnen ist).

Die geographische Nähe bewirkt, daß die Bilder, die von Europa ausgehen und unstillbare Bedürfnisse wecken, sowie die gegenseitige Durchdringung der Gesellschaften diesseits und jenseits des Mittelmeers, insbesondere zwischen Südeuropa und dem Maghreb, miteinander verschränkte Territorien herausbilden werden. Offen ist, ob es eine Zone der Konfrontation oder gemeinsamer Verantwortlichkeit und Entwicklung wird. Hier liegt der erste Grund für die Notwendigkeit eines Mittelmeer-Konzeptes: die Perspektiven der Konfrontation zu überwinden, um die Bedingungen für eine gemeinsame Entwicklung zu legen.

Europa muß sich von den USA emanzipieren

Bisher steht die bedeutende Mobilisierung für Osteuropa in keinem Verhältnis zu den höchst bescheidenen Ansätzen einer neuen Mittelmeer-Politik der EG. Dabei wäre ein auf die heutigen Bedingungen angepaßter Marshall-Plan notwendig, um sich den Herausforderungen in der Mittelmeer-Region stellen zu können. Der Ausbau eines leistungsfähigen Transportnetzes zwischen dem Südufer und Europa könnte ein Ansatzpunkt einer solchen Kooperation sein ebenso wie Unterstützungsmaßnahmen zum Aufbau arbeitsintensiver Unternehmen, um die enorme Arbeitslosigkeit, gerade unter Jugendlichen, zu mindern.

Aber die Notwendigkeit eines ehrgeizigen Mittelmeer-Projektes ergibt sich nicht nur aus wirtschaftlichen Überlegungen. Ökologische Gesichtspunkte und die derzeitigen Ungleichheiten in der Nahrungsmittelversorgung und -produktion sind genauso wichtig. Die derzeitigen Prognosen sind alarmierend. Die „Lunge“ des industrialisierten Europa, das Mittelmeer, droht durch Verschmutzung und ungebremste Verstädterung an seinen Ufern für immer entstellt zu werden. Hier sind völlig neue politische Initiativen erforderlich. Besondere Aufmerksamkeit verdient zudem die Frage des Trinkwassers, dessen Mangel ein zentrales Problem vor allem für Nordafrika zu werden droht.

Doch neben solchen sektoriellen Begründungen und dem Hinweis auf ökonomische und finanzielle Zwänge, basiert jegliche kooperative Gestaltung der Mittelmeer-Region vor allem auf der Errichtung eines gemeinsamen Sicherheitssystems und der Anerkennung von Wertvorstellungen, die von allen Seiten geteilt werden. Eine Lösung des israelisch-arabischen Konflikts gehört daher zu den unabdingbaren Voraussetzungen.

Ein zentrales Hindernis für die Einberufung etwa einer Sicherheitskonferenz für den Mittelmeer-Raum stellt die US-Politik dar: Denn für die USA gibt es diesen Bezugspunkt „Mittelmeer“ nicht, und es darf ihn auch nicht geben. Diese strategische Orientierung der Amerikaner zielt gerade darauf ab, die Herausbildung einer eng mit Europa verschränkten Mittelmeer-Region zu verhindern. Denn wenn sie entstünde, würde dies zu einer Marginalisierung des US- Einflusses in der Region führen.

Es kommt also darauf an, daß Europa und insbesondere Frankreich eine autonome Haltung auf internationaler Ebene wiedergewinnen muß, die es erlaubt, die Bedingungen seiner internationalen Sicherheit selber zu definieren. Im Osten wie im Süden stehen für Europa die ureigenste Entwicklung auf dem Spiel.

Ein solches internationales Verhalten Europas im Bezug auf die Mittelmeer-Region würde auch ein neues politisches Gleichgewicht innerhalb Europas ermöglichen — angesichts der Entstehung eines neuen Mitteleuropas, das abzudriften droht. Eine solche einseitige Bewegung birgt die Gefahr einer völligen politischen Zersetzung Europas. Unter diesen Bedingungen erscheint das Mittelmeer wie ein wichtiger ausgleichender Faktor für Europa. Wobei dies natürlich nicht dazu führen darf, Südeuropa mit seiner vertikalen Achse entlang des Mittelmeeres mit Nordeuropa und dessen horizontalen Achse in Zentraleuropa auszuspielen. Denn die gesamte Europäische Gemeinschaft muß sich auf diese Herausforderungen im Mittelmeer-Raum einstellen, um ihren inneren Zusammenhalt zu bewahren. Daher muß die europäische Politik in den nächsten zehn Jahren ein Mittelmeer-Konzept entwickeln. Thierry Fabre

arbeitet am Institut du Monde Arabe, Paris; Übersetzung: Thomas Hartmann