„Die Kinder hier sind die Zukunft Somalias“

Über 360.000 Menschen sind aus Somalia ins benachbarte Kenia geflüchtet/ Die vor einem halben Jahr herrschende Desorganisation bei der UNO besteht nicht mehr, aber Spannungen mit der einheimischen Bevölkerung wachsen  ■ Aus Nairobi Bettina Gaus

„520 waren's heute“, sagt Nassir Fernandez vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) lakonisch. 550 Flüchtlinge sind an diesem Vormittag im Osten Kenias an der somalischen Grenze von Lastwagen aufgesammelt und in verschiedene Lager der Region gebracht worden. Das ist kein Rekord, das ist Alltag: Insgesamt suchen derzeit rund 2.000 Männer, Frauen und Kinder aus Äthiopien, dem Südsudan und vor allem aus Somalia jeden Tag Schutz im Nachbarland Kenia. „Wenn die Entwicklung so weitergeht, müssen wir alle zwei Wochen ein neues Flüchtlingslager einrichten“, sagt Carrol Faubert, Leiter des UNHCR in Kenias Hauptstadt Nairobi. Er ist im April auf seinen Posten berufen worden. Sein Vorgänger Sylvester Awuye war von der Organisation abgelöst worden, nachdem die Arbeit des UNHCR in der internationalen Presse scharf kritisiert worden war. Obwohl in dem ostafrikanischen Land kein Bürgerkrieg herrscht und eine vergleichsweise gute Infrastruktur vorhanden ist, hatten zu Beginn des Jahres Flüchtlinge beispielsweise im Lager Liboi bis zu zwei Tage für Wasser anstehen müssen und fanden eine völlig unzureichende medizinische Versorgung vor. Der Flüchtlingsstrom aus Somalia sei nicht vorhersehbar gewesen, hatten damals Sprecher des UNHCR erklärt und versucht, mit dieser Begründung die Verhältnisse zu rechtfertigen. Angesichts der Tatsache, daß der Bürgerkrieg in dem Land am Horn von Afrika bereits über ein Jahr zuvor ausgebrochen war, wurde dieses Argument auf einer Pressekonferenz mit offenem Spott aufgenommen.

Die Kritik in den Medien hat das UNHCR offenbar aufgeschreckt. Das Lager Liboi im Osten Kenias ist heute ein Schulbeispiel für gut organisiertes Krisenmanagement. Vor den mittlerweile 74 Wasserhähnen bilden sich keine Schlangen mehr. Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat aus Ästen und Zweigen ein Notfallkrankenhaus für Schwerkranke gebaut und verteilt an alle Lagerbewohner Vitamin-C-Tabletten, um Mängel in der Nahrungsmittelhilfe auszugleichen. Die monatliche Todesrate ist von 4 pro 10.000 Flüchtlinge pro Tag im Mai auf 0,6 im Juli gedrückt worden. Das ist eine niedrigere Quote, als sie durchschnittlich unter normalen Lebensbedingungen zu verzeichnen ist. Kann aufgeatmet werden?

Die Probleme sind größer als vorher — aber das ist in diesem Fall nicht mehr die Schuld des UNHCR. Die Anzeichen mehren sich, daß Kenia dem Ansturm der Flüchtlinge nicht mehr lange gewachsen sein wird, ohne steigende soziale Spannungen und den Ausbruch von Gewalt in den eigenen Grenzen befürchten zu müssen. Noch im Januar 1991 versorgte das UNHCR nur etwas mehr als 4.000 Emigranten in dem ostafrikanischen Ferienparadies. Heute sind es bereits über 360.000 Flüchtlinge.

Bäume verschwinden, Gewehre gehen um

In weitem Umkreis um das Lager Liboi stehen Baumstümpfe, die die ohnehin eintönige Halbwüste in eine gespenstische tote Landschaft verwandeln. Die Hilfesuchenden haben die Bäume gefällt, um aus den Ästen und Zweigen ihre Hütten zu bauen. „Feuerholz ist dreimal so teuer wie früher“, erklärt der für das alte Dorf Liboi und die Umgebung zuständige Beamte Ahmed Ramata. „Auch die Preise für Gemüse sind in die Höhe geschossen. Außerdem sind viele Flüchtlinge Nomaden, die mit ihren Tieren über die Grenze gekommen sind. Jetzt muß die Bevölkerung das ohnehin knappe Wasser und Weideland mit ihnen teilen.“

Nicht alle Notleidenden sind vor dem Krieg geflohen. Viele hat die Hoffnung auf Nahrung über die Grenzen getrieben. „In unserer Gegend wurde nicht gekämpft“, berichtet Hassan Weheliye Hassan, der an diesem Tag mit zwei Ehefrauen und fünf Kindern aus Somalia in Liboi angekommen ist. „Aber die Dürre hat alles auf den Feldern vertrocknen lassen. Wir haben Hunger.“ Die Hälfte der somalischen Bevölkerung ist Schätzungen internationaler Hilfsorganisationen zufolge unmittelbar vom Hungertod bedroht.

Aber auch im Gastland Kenia herrscht Dürre. Die Vereinten Nationen haben die Geberländer um humanitäre Hilfe gebeten. Manchen der ortsansässigen Nomaden scheint es noch schlechter zu gehen als den Flüchtlingen: Immer wieder versuchen Kenianer, sich als Flüchtlinge auszugeben, um in die Lager aufgenommen zu werden und regelmäßig Nahrung zu bekommen.

Was verteilt wird, ist allerdings wenig genug: Nur einen Nährwert von rund 1.800 Kalorien enthält die tägliche Lebensmittelration pro Person — 2.200 Kalorien würden dem weltweiten Standard für Flüchtlinge entsprechen. Aber es fehlt an Geld: Auf mehr als 37 Millionen US-Dollar hat das UNHCR seinen Bedarf für das laufende Jahr beziffert — nur rund 16 Millionen, weniger als die Hälfte, sind von Geberländern bisher zugesagt worden. Die Krise am Horn von Afrika hat weltweit derzeit viel Konkurrenz.

Die Hilfsgüter locken Banditen an. Allein im Juni wurden Fahrzeuge und Flüchtlingscamps im Osten Kenias 22mal beraubt oder überfallen. Die Hilfsorganisationen „Ärzte ohne Grenzen“ verließ für einige Wochen die Camps, nachdem eine Krankenschwester von Räubern schwer verletzt worden war. Inzwischen sind die Helfer zurück — aber an der schlechten Sicherheitslage hat sich nichts geändert. „Theoretisch wird jeder Flüchtling an der Grenze entwaffnet, aber das ist ein Witz“, sagt Panos Moumtzis vom UNHCR. Angeblich gibt es in der Gegend so viele Gewehre, daß sie schon für umgerechnet zehn Mark zu kaufen sind.

Not macht erfinderisch. Viele Flüchtlinge fälschen Rationskarten, um mehr Lebensmittel zu bekommen und den Überschuß damit vielleicht auch für etwas eintauschen zu können, was im Warenkorb der Helfer nicht enthalten ist, wie Milch, Fleisch und Obst. Die Organisationen müssen dagegen vorgehen, selbst wenn einzelne ihrer Repräsentanten ein gewisses Verständnis für die Flüchtlinge haben. Aber das ist nicht einfach. Der Mann, der im Lager Walda dafür zuständig war, gefälschte Karten einzuziehen, mußte abberufen werden. Er war so unpopulär, daß er es nicht mehr wagen konnte, durchs Lager zu gehen.

Einkommensmöglichkeiten schaffen

Die erzwungene Untätigkeit der Flüchtlinge verschärft bestehende Konflikte. Liboi war immer nur als Durchgangslager gedacht. Es liegt nur 14 Kilometer von der Grenze zu Somalia entfernt und dürfte damit entsprechend der UN-Richtlinien eigentlich gar nicht existieren. Die schreiben vor, daß ein Camp aus Sicherheitsgründen mindestens 50 Kilometer von einer Landesgrenze entfernt sein muß. Inzwischen glaubt niemand mehr, daß die rund 43.000 Flüchtlinge in Liboi in naher Zukunft an einen anderen Ort gebracht werden können: „Die beiden Lager, die die Leute aus Liboi eigentlich hätten aufnehmen sollen, bekommen täglich Neuzugänge aus Somalia und sind ohnehin schon voll“, erläutert Yacoub Elhille vom UNHCR in Liboi, und er folgert: „Wenn wir akzeptieren, daß die Flüchtlinge hier noch lange, vielleicht jahrelang, bleiben werden, dann müssen wir auch für andere Dinge sorgen als nur für Wasser, Nahrung und Gesundheit. Wir müssen Einkommensmöglichkeiten für die Leute schaffen und vor allem an Schulen denken. Die Kinder hier sind die Zukunft Somalias. Eines Tages werden sie zurückgehen, und es besteht die Gefahr, daß wegen des Bürgerkrieges eine ganze Generation ohne Ausbildung bleibt.“

Viele Flüchtlinge würden gerne an einem derartigen Ausbau ihrer Möglichkeiten mitarbeiten. Vor einigen Wochen haben sich im Lager Frauenkomitees gegründet. Marian Mursal Abdi, eine ihrer Vorsitzenden, die mit Ehemann und vier Kindern schon seit über einem Jahr in Liboi lebt, erklärt: „Wir möchten erreichen, daß uns eine Grundausstattung zur Verfügung gestellt wird, damit wir mit Fertigkeiten wie Schneidern, Gemüseanbau oder Geflügelzucht selbst etwas Geld verdienen können.“ Auch erste Anfänge eines geregelten Schulunterrichts für die Kinder sind zu beobachten: „Wir haben jetzt acht Schulen im Freien eröffnet, wo 39 Lehrer in drei Schichten die Kinder unterrichten“, berichtet Abdulwahab Mahamud Ibrahim, der, selbst ein Flüchtling, für die Koordination des Unterrichts zuständig ist. Regelmäßiger Unterricht aber kostet Geld — Tafeln, Hefte, Bücher und Stifte müssen bezahlt werden. Und so dämpft Carrol Faubert vom UNHCR in Nairobi die Hoffnungen auf eine grundlegende Verbesserung der Lebensumstände für Flüchtlinge: „Vergessen Sie's. Wir haben im Augenblick nicht einmal genug Geld, um die nötigsten Grundbedürfnisse befriedigen zu können.“

Immer mehr ungebetene Gäste

Frieden und stabile Verhältnisse sind weder in Somalia noch im Südsudan in Sicht, und auch in Äthiopien verschlechtert sich die Lage eher, als daß sie besser würde. Alles spricht dafür, daß Kenia, das in der Vergangenheit von Flüchtlingsproblemen weitgehend verschont geblieben ist, sich langfristig auf ein Zusammenleben mit den ungebetenen Gästen einrichten muß. Aber der Druck auf Wirtschaft und Infrastruktur läßt den Widerstand hierzulande wachsen, obwohl internationale Hilfsorganisationen übereinstimmend der kenianischen Regierung große Kooperationsbereitschaft bescheinigen. Nach Nairobi haben sich rund 20.000 Flüchtlinge aus dem Nachbarland gerettet, die einen Teil ihres Vermögens mitnehmen konnten. Zeitungsberichten zufolge sind seit ihrer Ankunft die Mieten in einigen Stadtvierteln um bis zu 100 Prozent gestiegen.

Nairobi (AP) — Das UNO-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) hat am Sonntag bei der Regierung Kenias dagegen protestiert, daß die Polizei seit Samstag über 1.500 Flüchtlinge— meist Frauen und Kinder — in Nairobi und Mombasa festgenommen und so gut wie unversorgt gelassen hat. Die meisten der Flüchtlinge werden nach Angaben eines UNHCR-Sprechers ohne Nahrung, Decken oder medizinische Versorgung festgehalten. UNHCR habe 500 in Mombasa festgenommene Flüchtlinge in ein UNO-Lager gebracht, wo sie versorgt worden seien.