„Ich habe nie so viele weinen sehen“

■ Mitarbeiter des UNO-Hilfskonvois berichten über katastrophale Lage in Gorazde/ In der seit Monaten belagerten ostbosnischen Stadt hausen Flüchtlinge dichtgedrängt in Kohlekellern

Sarajevo (AFP/AP/taz) — Ein recht gespenstisches Bild bot sich den UN- Mitarbeitern des Hilfskonvois, als sie am Samstag in dem von Serben umzingelten Gorazde eintrafen: leere Straßen, zerstörte Häuser, verkohlte Mauerreste. Nur wenige Menschen schauen durch zersplitterte Fensterscheiben und Türen, als sich der Konvoi langsam durch die Straßen bewegt. Ihre Körper sind ausgemergelt von den Entbehrungen und Schrecken des Krieges. Während die Einwohner wie erstarrt auf die Ankömmlinge blicken, schieben sich vorsichtig Gewehrläufe durch schwarze Kellerluken.

Es ist das erste Mal, daß es ein Hilftransport geschafft hat, in die ostbosnische Stadt vorzudringen, die seit 150 Tagen von Serben belagert und ständigem Beschuß ausgesetzt ist. Verstörte und ungläubige Blicke folgen den Fahrzeugen des Hohen Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) und der UN-Friedenstruppen. Erst als sich langsam die Starre löst, wagen sich die Menschen aus ihren Verstecken. Frauen und Kinder nähern sich dem Konvoi, umarmen weinend die Blauhelme. Muneveran Imamovic (47) hat sich zum ersten Mal seit vier Monaten aus dem Keller ihres Hauses herausgetraut. Nach dem ununterbrochenen Mörser- und Panzerbeschuß sei ihre Geburtsstadt kaum wiederzuerkennen, erzählt sie unter Tränen.

Doch auch die Versorgungslage der Bevölkerung ist katastrophal: Nahrungsmittel und Wasser gibt es kaum noch in Gorazde. Nacht für Nacht fährt ein Tankwagen zweimal durch den Bombenhagel der Serben zu einer zwei Kilometer entfernten Wasserstelle, um am Morgen 25 Liter an jede Familie zu verteilen. Darüber hinaus erhält jede Person 7,5 Kilo Weizen pro Monat für Brot. Gemüse, Obst, Hühner oder Schafe sind zwischen den Kratern der Granateneinschläge nur ganz selten zu sehen. Noch schlechter geht es den Flüchtlingen, die vor der Belagerung nach Gorazde kamen. Sie haben keinerlei Vorräte und hausen meist dicht zusammengedrängt in dunklen Kohlekellern. Wie viele Menschen in der Stadt noch der Belagerung standhalten, weiß niemand genau. Der UNO- Konvoi bekommt nicht mehr als rund 1.000 Personen zu Gesicht. Nach Angaben von Bürgermeister Hadzo Efendic sollen es jedoch 40.000 Menschen sein.

Das Krankenhaus, ein zweistöckiges Gebäude, liegt auf der anderen Seite des Flusses. Niemand unterbricht wegen des Besuches die Arbeit. Im dünnen Licht einer Taschenlampe entfernen Ärzte Granatensplitter aus dem geöffneten Rücken eines zwei- oder dreijährigen Kindes. Jedesmal wenn die Pinzette in sein Fleisch eindringt, brüllt das Kind vor Schmerzen auf. Alija Begovic, fahl und schlecht rasiert, erklärt, die wenigen übriggebliebenen Narkosemittel müßten für die Amputationen reserviert bleiben: „Viele Menschen sterben, weil ich keine Medikamente und keine Chirurgen habe.“ Es fehlt an Geräten zur Bestimmung der Blutgruppen, an Antibiotika und Impfstoffen gegen Tetanus. Auch Larry Hollingsworth, der Leiter der Vertretung des UNO- Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), berichtet später: „Wir haben gesehen, wie im Krankenhaus vier Operationen ohne Narkose vorgenommen wurden, und wir haben ungewöhnlich ausgemergelte hungernde Menschen gesehen.“ Unter den angelieferten Hilfsgütern hätten sich zwar sechs Tonnen Medikamente befunden, jedoch keine Anästhesiepräparate. „Die meisten der Stadtbewohner“, sagt Hollingsworth, „die wir zu Gesicht bekamen, sind in Tränen ausgebrochen. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Menschen plötzlich weinen sehen.“

Nur drei Stunden dauert der Aufenthalt des Konvois in Gorazde. Dann, als die Fahrzeuge den Kessel, in dem die Stadt liegt, verlassen, schallen die dumpfen Explosionsgeräusche von neuem durch das Tal.

Die Fahrt der acht Schützenpanzer und acht Lastwagen nach Gorazde, 50 Kilometer östlich von Sarajevo, galt als erster Test für die Wirksamkeit der vom Weltsicherheitsrat verabschiedeten Resolution über Militäraktionen zur Sicherung humanitärer Hilfe für Bosnien-Herzegowina. Mit 46 Tonnen Hilfsgütern war die Kolonne am Samstag aufgebrochen und hatte für die 100 Kilometer 40 Stunden gebraucht. Immer wieder war sie bei der Hinfahrt in Rogatica in Feuergefechte geraten, einmal vor einer verminten Brücke gestoppt worden.

Keine schärferen Embargo-Kontrollen

Die EG-Staaten haben sich nicht auf Maßnahmen für eine schärfere Überwachung des Handelsembargos gegen Serbien und Montenegro geeinigt. Vertreter der EG-Mitgliedsstaaten lehnten gestern in Brüssel einen Vorschlag der EG-Kommission ab, im Handel mit den anderen ehemaligen Republiken Jugoslawiens zusätzliche Begleitpapiere einzuführen. Damit sollte der Endverbleib von Waren besser kontrolliert werden. Statt dessen soll eine Arbeitsgruppe die Wirksamkeit eines derartigen Vorgehens „technisch überprüfen“, sagten Diplomaten in Brüssel. Am Donnerstag sollen sich zudem die politischen Direktoren der EG-Außenministerien in London mit der Kontrolle des Embargos befassen. Bei den Beratungen der EG-Diplomaten hieß es, das UN-Embargo würde vor allem durch illegale Einfuhren über Rumänien und insbesondere die Donau umgangen. BZ