Zwei Tage jünger

Sommerfestival Hamburg: Carybé, Maler aus Bahia  ■ Von Helmut Ziegler

Zuerst waren die Zigarren — Werbegeschenk des Sponsors Centro Cultural Dannemann, Sao Félix — alle. Dann ging auch der kostenlos ausgeschenkte Caipirinha — das brasilianische Nationalgetränk aus Limonenschnitzen, gestoßenem Eis, viel Zucker und Cacha¿a-Schnaps — zur Neige. Von all den Narkotika berauscht, wankte das Vernissage-Publikum aus der Halle3 des Kampnagel-Geländes. Man hatte die Gelegenheit genutzt, „nach 500 Jahren nicht als Eroberer, sondern als Gastgeber“ — so Hamburgs Kultursenatorin Christina Weiß — „Lateinamerika neu, in seinen eigenen kulturellen Äußerungen zu entdecken“.

Hector Julio Paride Bernabó, unter seinem Künstlernamen Carybé fast weltweit bekannt, war das sichtlich wurscht. Mit einem amüsierten Lächeln in den Mundwinkeln schlenderte der 82jährige durch seine erste Werkschau auf europäischem Boden. „Mich hat nie jemand gesucht“, erläutert er das jahrzehntelange Desinteresse der alten Welt und bleibt jetzt, wo rund 130 Werke aus 60 Schaffensjahren einen ersten Blick auf sein überbordendes OEuvre ermöglichen, betont cool: „Ich habe keine Zeit für meine Vermarktung. Ich muß malen.“

Tatsächlich arbeitet er ununterbrochen. Noch vor dem Abflug in die Bundesrepublik zeichnete er im Flughafenrestaurant, und hinter dem Thresen der Halle3 hängt eine Serviette, auf der er Eindrücke von den Ausstellungsvorbereitungen skizzierte: Frauen auf Leitern, die Bilder hängen, von einem Adler mit mächtigem Schnabel — Carybé selbst — überwacht. Schon in diesen flüchtig hingeworfenen Strichen findet sich viel von dem, was Carybé beschäftigt: Das Weibliche, die Verschmelzung mit der Natur sowie der Blick aufs Große aus der Vogelperspektive.

Carybé wurde am 7.Februar 1911 in Buenos Aires geboren, besteht allerdings bis heute darauf, zwei Tage jünger zu sein, weil sich die Eintragung ins Geburtsregister wegen eines Hurricanes verzögerte. Als Sohn einer Brasilianerin und eines italienischen Buchhalters wächst er die ersten Jahre in Genua auf und erlebt den Ersten Weltkrieg in Rom. Als in Italien „die Schwarzhemden auftauchten, das markante Kinn Mussolinis und das Rhizinusöl“, verkauft die Familie 1919 ihr Hab und Gut und emigriert nach Rio de Janeiro. Während Carybé noch fliegenden Ameisen Grashalme in den Hintern steckte, entwarfen seine älteren Brüder bereits Dekorationen anläßlich der Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit Brasiliens. Später ging er den Geschwistern zur Hand — „meine Hauptaufgabe war das Heizen“ — und trat in die Hochschule für Bildende Kunst ein.

Als sein Bruder Roberto den Auftrag für die Karnevalsdekoration verschiedener Hotels annimmt, muß der damals 18jährige aus dem Stand malen, bildhauern, illustrieren und Bühnenbilder entwerfen, um den Termin einzuhalten: „Wir hängten das letzte Lämpchen auf, als das Orchester den Ball eröffnete!“

Diese Vielseitigkeit hat sich Carybé bis heute erhalten. So erinnern frühe Karikaturen für Tageszeitungen in Stil und Ironie deutlich an George Grosz, Tuscheskizzen von Berimbau-Combos sind mit der strengen Eleganz der japanischen Kalligraphie ausgeführt, seine Holzschnitt-Serie über die göttlichen „Besuche in Bahia“ ähnelt Comic- Bänden von Zeichnern der ligne claire wie Ted Benoit oder Daniel Torres, seine Studien zur „Ikonographie afrikanischer Götter“ wiederum besitzen die Leichtigkeit französischer Modeschöpfer.

Obwohl Carybé, wie er einräumt, „alle -ismen gefressen hat“, hat er sich dennoch nie auf einen Stil oder ein Material festgelegt. Auf ein Thema jedoch schon. Immer wieder taucht — ob in Bronzeskulpturen, Holzschnitzereien oder der von Picasso beeinflußten kubistischen Periode — die „Americanidade“ in seinen Exponaten auf, die schillernde, kaum faßbare Vielfalt lateinamerikanischer Identitäten. Was Außenstehenden oft nur als folkloristische, naive Malerei erscheinen mag, die Darstellung von Menschen und Göttern — Landschaften sind für Carybé „wie der Salat beim Mittagessen“, mithin unwichtig —, entspricht in Wahrheit Reportagen aus dem magischen Realismus. Wie ein HipHop- Musiker „samplet“ Carybé Ideen, Mythen der afro-brasilianischen Historie und Begebenheiten des Alltags in seinen Bildern, um sie so, quasi als Groove und durch seinen Blick veredelt, dem Betrachter zurückzugeben. „Kunst“, behauptet Carybé, „ist etwas, das man tanzt.“

Eine Einstellung, zu der man in Bahia wahrscheinlich schneller gelangt als anderswo. Seit dem Neujahrstag 1950 ist der Staat im Nordosten Brasiliens Carybés Wahlheimat — hierzulande hauptsächlich bekannt durch „Forró“, die landeseigene Mischung aus Ska und Polka und durch die tropische Reklame des Kleidungsproduzenten „Sisley“. „Ich habe einen idealen Ort zum Malen gesucht“, begründet der Mestize seine Entscheidung, „und es gab nur zwei — Bahia oder den Alto Plano. Ich war oft im Alto Plano, habe aber unter den Indios nie einen Freund gefunden. Die Leute in den Bergen sind halt nicht sehr lustig — Schweizer und Tibetaner natürlich ausgenommen.“

Bahia — mit seinen lebensfrohen Bewohnern und dem Flair eines Seeräuberhafens — war da die naheliegendere Entscheidung. Er selbst hat aber nie vergessen, daß Bahias tiefste Wurzeln die von den westafrikanischen Sklaven in Brasilien fortgeführte Candomblé-Religion ist, „die einzige Religion ohne Hölle“, deren Mitglied Carybé ist. Daß zu dieser Glaubensgemeinschaft auch die Arbeiter in den Salpeterminen gehörten, deren Nachfolger heute während der Zuckerrohrernte vier Tonnen für fünf Mark Tageslohn schneiden müssen, um ihre Familien vor den Folgen der Dürre zu bewahren, diese Wahrheit spiegelt sich als Schönheit in der Arbeit Carybés. Denn er ist nicht nur Muralist, also Wandmaler, sondern auch Moralist.

Carybé. Ausstellung in der Kampnagelfabrik Hamburg, bis zum 5.September.