Alphabet der Scheiße

John Gregory Bourkes Kulturgeschichte der Fäkalien  ■ Von Martin Halter

Das Buch im angemessen kackbraunen Einband stinkt zum Himmel: Es steckt, mit Verlaub zu sagen, voller Scheiße. 1891 hatte der amerikanische Ethnologe John Gregory Bourke (1846-1896) ein umfangreiches Buch über „Die skatalogischen Riten aller Nationen“ für den wissenschaftlichen Privatgebrauch publiziert; Skata- oder manchmal auch Skatologie heißt die Wissenschaft von den Ausscheidungen. Aus über tausend Büchern, Korrespondenz mit Fachkoryphäen und persönlicher Feldforschung — traumatische Urszene des Autors und Keimzelle des Buchs ist die Beschreibung des „Urintanzes“ der Zuni-Indianer von Neumexiko, den Bourke am 17.November 1881 erleben durfte — hatte der Aftergelehrte skatalogisches Material aus Anthropologie, Folklore, Religions- und Literaturgeschichte gesammelt. (Die ursprüngliche thematische Ordnung Bourkes ist vom Herausgeber der neuen amerikanischen Ausgabe zugunsten einer alphabetischen Gliederung nach Stämmen, Völkern und Religionsgemeinschaften aufgegeben worden, so daß die Universalexkrementologie heute von A wie „Abessinier“ bis zu den sehr ergiebigen Zuni reicht.)

Professor Unrats Skatalog aller möglichen Ausscheidungen ist anrüchig, aber kulturhistorisch nützlich — nicht zuletzt dank des ebenso klugen wie witzigen Nachworts des Bearbeiters und Herausgebers Louis L. Kaplan.

Sein Essay stellt uns Bourke als einen Mann vor, der als Soldat — in den Indianerkriegen der siebziger Jahre hatte sich der Kavallerieoffizier einen Namen als Indianerschlächter gemacht — wie als Afterwissenschaftler ein Leben lang über die „Problematik der Abfallentsorgung“ meditierte; der zwanghafte Wunsch, seine geistigen Entleerungen auf Papier festzuhalten, hat der Nachwelt nicht nur 127 Tage- und sechs wissenschaftliche Bücher beschert, sondern ihm bei den Apachen den Ehrentitel eines „Papiermedizinmanns“ eingetragen. Als militärischer Pionier plädierte er für die Beseitigung des menschlichen Unrats, später — zum Indianerfreund bekehrt, der beflissen die Ausscheidungen und Überlebsel („survivals“) einer sterbenden Kultur sammeln wollte — für die skatalogische Wiedergewinnung. Mit einer Mischung aus wissenschaftlichem Hochmut und Ekel blickte er auf das Häuflein Scheiße herab, das die „Primitiven“ hinterlassen hatten; der fortschrittsgläubige Positivist hoffte darin wichtige Aufschlüsse über die dunkle Vorgeschichte des Kulturmenschen zu finden und damit den „genauen Umfang des Fortschritts in all dem, was Zivilisation heißt, besser erfassen“ zu können. „Wo auch immer es ihn hintreiben mag“, schreibt Kaplan, „der ethnographisch-soldatische Polizist wird von einem Schmutzteufel verfolgt. Ob Zuni, Apachen, Moni oder wer auch immer, alles stinkt.“ So durchstöberte der exkrementelle Visionär angewidert und fasziniert den Aberglauben und die kultischen Tänze zahlreicher Völker (Angolaner, Bayern, Druiden, Flachkopf-Indianer, Samariter, Vatikaner...) auf Spuren von Kot, Urin und Urinstinkten, mistet den Augiasstall von europäischen Pissoirs und Abfallgruben aus, schnüffelt an Amuletten aus Mastdarm und Hundescheiße, an Medizinen und magischen Tinkturen wie dem „orientalischen Schwefel“, dem „Oleum ex stercore destillatum“ oder dem „Eau de Mille Fleurs“, deren pharmazeutische Zusammensetzung besser im dunkeln bleibt. Indem der „Bergungsethnologe“ den Unrat der Wilden skatalogisiert und mit der Reinlichkeit der Kulturvölker vergleicht, bringt er selber zivilisierten Unrat hervor: eine eschatologische Theologie der Scheiße.

Wir erfahren, daß die Chinesen ihr Wasser durch vergoldete Bambusröhrchen ließen, die Eskimos ihre Haare in Urin waschen und die Schweizer auf ähnliche Weise die Gärung gewisser Käsesorten anregen. Die Römer hatten eine Göttin der Kloake und einen Gott der Scheiße, die Franzosen nahmen Fürze als Brückenzoll und brauten Liebestränke aus Menschenkot, die Gnostiker beteten die Windeln Jesu an. Die alten Deutschen glaubten — mit Luther —, den Teufel durch einen Furz verscheuchen zu können. Wer seiner verhexten Manneskraft aufhelfen wollte, mußte durch den Brautring pinkeln.

Die notorische Analfixierung der Deutschen ist inzwischen ja auch in der Forschungsliteratur gebührend gewürdigt worden. Bourke greift immer wieder dankbar auf die — durchweg deutschen — Klassiker der Barock-Skatalogie zurück: auf Ettmüllers Kot-Medizin von 1690, auf die denkwürdigen Mitteilungen Flemmings, Frommanns und Eberhardius Gockelius', auf Schurigs epochale „Chylologia“ (1725) und Paullinis „Heylsame Dreck-Apothek“ von 1696 mit ihren lakonischen Rezepturen: „Gegen Irresein Eselsmist äußerlich. Gegen Wahnsinn Menschenkot innerlich, Knabenharn innerlich, ebenso Eulenkot und Zickleinmist innerlich.“

Der wissenschaftliche Ertrag dieser „Bibliotheca scatologica“ mag gering sein, weil Bourke sich auf die Sammlung von Fundstücken und Ergebnissen seiner beschissenen Feldforschung beschränkt, ohne in die Deutung oder auch nur Systematisierung des Materials einzutauchen. Aber er hat als „Skatalysator“ (Kaplan) der Psychoanalyse größeren Geistern vor- und zugearbeitet. „Das Meiste und Beste, was wir über die Rolle der Ausscheidungen im Leben der Menschen wissen, ist in dem Buch von J.G. Bourke zusammengetragen“, rühmte Sigmund Freud im Vorwort zur deutschen Ausgabe („Der Unrat in Sitte, Brauch, Glauben und Gewohnheitsrecht der Völker“) von 1913. „Es ist daher nicht nur ein mutiges, sondern auch ein verdienstvolles Unternehmen, dieses Werk den deutschen Lesern zugänglich zu machen.“ John Gregory Bourke starb am 6.Juni 1896 an jener Darmverstopfung, gegen die Paullini „Menschenkot, innerlich genommen“ verschrieb.

John Gregory Bourke: „Das Buch des Unrats“. Mit einem Geleitwort von Sigmund Freud und einem Nachwort von Louis Kaplan. Aus dem Amerikanischen von Friedrich S. Krauss und Hermann Ihm. Die Andere Biblitothek, Band91, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1992, 362Seiten, 44DM.