„Wir hatten 70 Jahre lang Darmverschlingung“

Nachdem die rauschende Siegesfeier vor dem Weißen Haus in Moskau ins Wasser fiel, feiern die „VerteidigerInnen der Demokratie“ in einer Wohnküche ihre neue Freiheit: „Wir haben die Barrikaden zu früh abgerissen“  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Lagerfeuer, wie letztes Jahr, gibt es nicht am Mittwoch abend vor dem Weißen Haus an der Moskwa. Nur Laien spielen auf der Gitarre, als im strömenden Regen ein leicht irritiertes Häuflein von Ex-VerteidigerInnen den ersten von drei Jahrestagen ihres Sieges über die Putschisten zu feiern beginnen. Die Sekretärin Larissa erzählt aus ihrer eigenen „Abteilung“: Vierundachtzig Männer und eine Frau hätten sich da „strikt organisiert“. Gekommen sind davon ganze acht Leute. Kein Wunder, denn um die Festivitäten gab es, wie in diesem Lande üblich, allerlei Chaos. Die Firma „LISS'S“, die die Ausgestaltung übernommen hatte, warf bereits letzten Donnerstag das Handtuch. Sie stieß sich an dem großen „Nein“ — nach Hörensagen von Präsident Jelzin selbst ausgesprochen — zu einer Gala-Show im Kongreßsaal des Kreml.

Offensichtlich möchte Jelzin den Sieg, der sich in den Augen der Bevölkerung heute eher bescheiden ausnimmt, nicht unbescheiden feiern. „Wir sind ins Wasser gesprungen, ohne schwimmen zu können“, sagt der Präsident in seiner Rundfunkrede, die hier vor dem Weißen Haus lautstark übertragen wird: „Aber wir haben uns weder verschluckt noch sind wir ertrunken“. Der Bürgerfrieden sei heute in Rußland das Wichtigste. Größter Verdienst der demokratischen Kräfte, findet Jelzin, war, daß man sich nicht auf einen revolutionären Weg mit allen Folgen hat locken lassen. Als nächsten Reformschritt nach der Freigabe der Preise zu Beginn des Jahres 1992 kündigt er für Oktober die Verteilung von „Privatisierungschecks“ für alle Bürger im Werte von zehntausend Rubeln an. Mit diesem Einsatz können die Bürger Anteile an den staatlichen Betrieben erwerben.

Sonst gibt es keine Reden von Prominenten auf der historischen Freitreppe. Larissa gelingt es, den populären Untersuchungsrichter und Mafia-Jäger Telman Gdljan beim Verlassen des Weißen Hauses am Ärmel zu erwischen und nach seiner Bewertung des Jubiläums zu befragen. Und hier Gdljans Antwort: „Dies war ein Jahr des Sieges und der Niederlagen. Die Niederlage bestand darin, daß wir unsere eigene Macht wieder abgegeben haben, obwohl, rein formell betrachtet, wir Demokraten gesiegt haben. Aber die versäumte Zeit muß man aufholen. Jetzt kommt es darauf an, die demokratischen Kräften in einen einheitlichen Block zusammenzufassen, um uns gegen die Herrschaft derer durchzusetzen, die in unserem Namen das Parlament dirigieren.

Die Flaggen und Wahrzeichen dort sind unsere, aber die Physiognomien und das Wesen der ganzen Angelegenheit sind die gleichen geblieben. Geht doch in irgendein Kabinett der Exekutive, Legislative oder der gerichtlichen Instanzen hinein und ihr werdet sehen, daß man alle die, gegen die wir in allen diesen Jahren gekämpft haben, nicht einmal angerührt hat. Und glaubt Ihr etwa, daß die unsere Politik durchführen werden?“

Nach zwei Stunden trollt sich der eiserne Kern „Larissas Abteilung“, um sich endlich in der Wohnküche eines Ex-Kämpfers an gehorteten Delikatessen und Spitituosen zu laben. Mit ihren Ansichten halten die acht dabei nicht hinterm Berg. Wladimir, ein ehemaliger Hauptmann, ist in diesem Jahr arbeitslos geworden. „Wichtig ist doch, daß ich mich freier fühle als je zuvor“, gibt er zu bedenken. „Aber wir haben die Barrikaden wohl zu früh abgerissen.“ Der rüstige Fünfziger hat seine siebzehnjährige Tochter Anja mitgebracht. Sie hat in diesem Jahr gerade die Schule abgeschlossen. Das Bildungswesen sei noch immer das gleiche, beklagt sie sich: „Auch in diesem Jahr kamen die Schulabgänger, die die höchsten Schmiergelder bezahlen konnten, als erste an irgendeiner Hochschule unter. Bei unserem System kann man von den Mächtigen doch nicht erwarten, daß sie sich an geistigen Werten orientieren“.

Sascha, ein Vorarbeiter Anfang 30, ist da ganz anderer Meinung: „Na, was du nicht sagst. Ich zum Beispiel habe in diesem Jahr zu lesen angefangen und mir allein für dreitausend Rubel Bücher gekauft. Viele Handwerksmeister finden jetzt Arbeit bei der Instandsetzung von Kirchen und schleppen von dort Bücher an. Und wenn Du nur mit einem Buch in die Werkstatt kommst, stürzen sich alle darauf. Das war früher nicht so“.

Da meldet sich Igor, Ende 20, zu Wort: „Beim Zuhören liegen mir schon lange ein paar Worte auf der Zunge. Ich war früher Sekretär einer Komsomolzelle, ausgerechnet für Ideologie. Und vielleicht unterscheide ich mich von vielen hier dadurch, daß ich von unserem Sieg im letzten August eigentlich gar nichts besonderes erwartet habe. Ich wußte, daß das den Gang der Geschichte nicht wesentlich beeinflussen würde. Unser Land hat nun einmal siebzig Jahre an einer Darmverschlingung gelitten und es wäre naiv anzunehmen, daß es in ein oder zwei Jahren geheilt wird. Ich bin zum Weißen Haus gegangen, weil ich als Kooperator mein Geschäft durch den Putsch bedroht sah. Wie die meisten meine ich heute, daß Phänomene wie Arbeitslosigkeit oder der Unterschied von Arm und Reich historisch unumgänglich sind. Aber das ist es ja gerade, daß wir dies in unserem Kopf wissen und aussprechen, aber doch in unserer Seele noch nicht glauben können. Wir selbst sind doch noch nicht für das Neue bereit“.