»Noch ein Schritt, mir knicken die Beine weg«

■ Seit neun Jahren hat Hans Jürgen Radke aus Lichterfelde Multiple Sklerose/ Die Zeit der Umstellung war die schwierigste Phase/ Heute meistert er das »Schicksal im Rollstuhl« mit viel Lebensfreude und erstaunlich großer Gelassenheit

Im September 1983 veränderte sich das Leben von Hans Jürgen Radke. Schwach fühlte er sich seit langem, die Arbeit in einem Berliner Seifengroßhandel fiel ihm schwer. An manchen Tagen nach Feierabend brauchte er für die fünfhundert Meter bis zur Bushaltestelle eine geschlagene Stunde: »Ich dachte, das seien vorübergehende Schwächeanfälle. Ich kämpfte dagegen an, aber mehr als zehn Meter an einem Stück schaffte ich nicht.« Er hielt sich an Zäunen oder Laternen fest, sammelte Kraft, schleppte sich weiter bis zu dem Moment, an dem er wußte: »Noch ein Schritt, mir knicken die Beine weg, und ich lande auf dem Bauch.« Bald mußte sich Hans eingestehen, daß es so nicht weiterging. Im Krankenhaus war erst die Rede von einer Nervenkrankheit, nach sechs Wochen stand die Diagnose fest: MS — Multiple Sklerose. MS befällt Gehirn und Rückenmark an unterschiedlichen Stellen und löst verschiedenste Symptome aus. Die Krankheit verläuft meist in Schüben und baut die Fähigkeiten des Patienten immer weiter ab. Über die Ursachen der MS rätselt die Wissenschaft bis dato. Aber nicht jeden, der MS hat, ereilt das vielbeschriebene »Schicksal im Rollstuhl«. Zu diesen 30 bis 40 Prozent gehört Hans nicht. Seit 1988 braucht er den Rollstuhl. Sieben oder acht Minuten auf den Beinen kosten Hans heute an schlechten Tagen soviel Anstrengung, daß er sich davon zwei Stunden erholen muß. »Damit muß ich leben«, sagt er, und das klingt, als habe er sich nur das Bein gebrochen.

Nachdem er den Schock der Diagnose überstanden hatte, gab er seine körperlich anstrengende Arbeit auf. Per Umschulung ließ er sich in Hamburg zum Büropraktiker ausbilden. Einen Job bekam er nicht: »Nach hundert Bewerbungen habe ich aufgegeben, und dabei hatte ich gute Zeugnisse.« Seine Freundin hat ihn damals »im verflixten siebten Jahr« verlassen, weil er nur am Wochenende zu Hause gewesen sei. »Wie das Leben so spielt«, diesen Satz fügt der 37jährige Hans immer wieder ein, wenn er erzählt, und lächelt dabei, nicht einmal gequält. Jetzt glaubt er nicht mehr daran, noch eine Lebensgefährtin finden zu können: »Ich habe da wohl nicht die besten Chancen, obwohl es die ja immer gibt. Eigentlich habe ich mich damit abgefunden, auch wenn mich manchmal die Lust packt.«

Die Zeit, als er sein Leben umstellen mußte, war die bisher schwierigste. Dagegen habe er sich gewehrt und alles nur noch schlimmer gemacht. Inzwischen hat er sich sein Leben zwischen Gesundheit und Behinderung eingerichtet. Den Haushalt seiner Dreizimmerwohnung in Lichterfelde führt er fast alleine. Stolz ist er, daß er nur zweimal in der Woche die Hilfe eines »Jungen vom Sozialamt« benötigt. Wenn er einsam sei, versuche er seine Kräfte zu regenerieren. Verlassen aber fühlt er sich nicht: »Es gibt auch Tage, an denen es hier wie im Hühnerstall zugeht.« Der Briefträger Kai kommt jeden Morgen mit Brötchen zum Frühstück, bevor er auf seine zweite Runde geht. Kai läßt einen Postsack da, und Hans sortiert. Ein Jahr lang hat er in einer Gruppe mit MS- Kranken Aquarelle gemalt. »Eigentlich hatte ich keine Lust zu malen, aber es war für mich eine Gelegenheit, andere Menschen kennenzulernen.« Einfach war es für ihn nicht. Eine Frau habe verrenkt in ihrem Rollstuhl gelegen, ihre Sprache war nicht zu verstehen. »Der Anblick hat mich so erschreckt, daß ich erst nicht wieder hingehen wollte. Es schoß mir durch den Kopf, daß ich auch so enden könnte.« Später hat er Spaß am Malen gefunden. Noch bis zum 28. August werden die Aquarelle in der Beratungsstelle für Behinderte im Bezirksamt Steglitz ausgestellt. Das Bild »Herbstapfel« wollten Besucher der Ausstellung bereits kaufen, auch wenn Hans den Apfel eher für »eine ausgequetschte Zitrone« hält. Zum Abschied stellt sich Hans langsam auf seine dünnen Beine. Unter dem Gewicht knicken sie leicht nach innen, die Anstrengung scheint enorm. »Es geht«, sagt er fast ein wenig überrascht. »Komm mal in ein, zwei Jahren vorbei. Dann kannst du sehen, ob es dann auch noch geht.« Zur Tür kommt er nicht mehr mit. Ralf Knüfer