Raus aus dem Zug, runter in den Tunnel, hoch, rein in den Zug

■ Das Anschluß-Timing im deutsch-deutschen Schienenverkehr entscheidet darüber, ob man sich der Bundes- und Reichsbahn anvertraut hat - oder ob man ihnen ausgeliefert ist

Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzigen Schritt. Das habe ich auf dem Kulturbeutel einer Freundin in einem Berliner Badezimmer gelesen. Auf die Eisenbahn übertragen bedeutet es: am Anfang der Eilzug. Da ich rechtzeitig in der Aachener Bahnhofshalle stehe, habe ich Zeit, mich zu erinnern. Hellgrün war die Schrift auf dem Kulturbeutel, und an jenem Abend in Berlin sah es zum ersten Mal seit sieben Wochen nach Gewitter aus.

In Aachen regnet es. Kühl zieht es an den bloßen Beinen. Mein Eilzug fährt nach Iserlohn, um 8.07 Uhr von Gleis 3a/b. Eine Armbanduhr habe ich nicht, aber Zeiten im Kopf. Umsteigen um 9.05 Uhr in Neuss in den Zug um 9.25 Uhr nach Dresden und um 18.15 Uhr in Dresden-Neustadt nach Görlitz, Weiterfahrt 18.20 Uhr. Ankunft in Görlitz um 20.26 Uhr. Wenn's klappt.

Die Lok zieht an. Berufsverkehr: Aachen- West, Herzogenrath, Geilenkirchen, Lindern, Baal. Ach, diese kahlgeschorenen Käffer da draußen im Regen. Die Deutschen, mutmaßen ihre Denker in den Zeitungen, sind friedliebender geworden. PendlerInnen steigen zu und bringen die Welt mit: die Frankfurter Allgemeine, die Düsseldorfer Rheinische Post, den Berliner Tagesspiegel und das Boulevardblatt aus Hamburg. Klaus Hillenbrand sitzt mir gegenüber und notiert etwas. Ich würde gerne wissen was. Mit zweieinhalb Minuten Verspätung steige ich in Neuss aus. An Gleis 1 warte ich auf den Interregio von Köln nach Dresden. Die Reisenden drängen sich wie verfrorene Lämmer in der Bahnsteigmitte zusammen. Ich vergleiche Abschiedsrituale. Eine Kirchturmuhr in Neuss schlägt zweimal, der Anschluß in Dresden ist weg. Mit neun Minuten Verspätung trudelt der blauweiße Zug ein. Ich wähle Platz 65 im Waggon Nummer 26, wegen der Beinfreiheit. „Warum hat der Zug Verspätung?“ frage ich die Schaffnerin. „Tja“, erklärt sie, „unser Zugführer kam mit dem Zug zur Arbeit. Und der hatte eine halbe Stunde Verspätung.“ Der gehobene Komfort eines Interregio besteht in der Illusion von Platz. Die Fahrgäste kommen unter, ihr Gepäck nicht. Drei Koffer, zwei Taschen und ein Rucksack in unserem Großraumabteil zwingen die Vorbeigehenden zu einem Schlingerkurs.

Der Zug rollt durchs Ruhrgebiet. Alle zehn Minuten ein Bahnhof: Duisburg, Mülheim, Essen, Bochum, Dortmund. Ich packe meine Stullen aus und blättere im Spiegel. Der hat auf zwei Seiten ein taz-Interview ausgeschlachtet. Zwei Bochumerinnen haben geräuschvoll Platz genommen und damit begonnen, das Abteil zu unterhalten. Die ihnen gegenüber sitzende Dame kommt aus Dresden und wird zum bevorzugten Opfer erkoren. „Wissense“, trompetet es hinter mir, „azzie Kinda klein wahn, hab ich Pakete imma erst nach Weihnachten geschickt. Da krichten unsere wat Neues, unttich konnte dat alte Zeuch aussotiean.“ Die Dresdenerin verweist würdevoll auf ihren „Dräsdner Schdolle“, den sie an die Westverwandtschaft geschickt habe.

In der Gegenrichtung fährt — ökologisch vorbildlich — ein Wanderzirkus vorüber: Zirkus Krone auf Schienen. Meine Wanderung dauert bis Hannover und ergibt: In der Mitte mit Passagieren und Gepäck gestopft und an den Enden hohl. „Die Leute sind zu faul, auf dem Bahnsteig langzulaufen“, sagt der Schaffner. Was ich denn da aufschreibe? Ich erzähle ihm von unserer Vergleichsfahrt. Er grinst: „Der arme Autofahrer.“ Ab Hannover zieht uns eine Reichsbahn-Diesellok. Das Interregio-Team sächselt. Mir gegenüber ödet sich ein Görlitzer Ehepaar an. Er, unterwürfig, macht den Trottel; sie liest die Neue Post und tröstet sich mit „Dianas Eheelend“. Ich verkneife es mir, meinen Senf über frühere Grenz-Erfahrungen beizugeben, kann aber nicht verhindern, daß Erinnerungen aufsteigen. Immer nachts, immer dieser Geruch, immer diese Müdigkeit, wenn die Staatsorgane uns durchprüften. Ra-tang, ra-tang, das vertraute Geräusch unverschweißter Gleise schläfert mich ein. Mein letzter Blick vor Leipzig schweift auf die glitzernde Elbe. Die Sonne kommt durch.

Leipzig, Leipzig, dieser Bahnhof. Damals kamen wir früh um sieben, sahen erste Sonnenstrahlen sanft den Smog in der hohen Halle teilen. Fünf Minuten von hier wohnen Freunde. Ich möchte gerne aussteigen, lungere aber am Zugfenster rum. Derweil kappt die Reichsbahn endgültig meinen Anschluß in Dresden-Neustadt, um Glücklichere zu bedienen. Eine Viertelstunde warten wir.

Die Ruhrgebiets-geschädigte Dresdenerin gesellt sich zu mir. Trotz ihrer Fülle hat sie sich ein mageres, jugendliches Gesicht bewahrt. Wir starren auf den Bahnsteig, und ich eile durch ein fremdes Leben. 66 Jahre, drei Kinder und „immer gearbeitet“. Viel rausgekommen ist man nicht. Aber wenn es auch mühsam gewesen ist, es war doch schön. Nach der Wende schickten ihre West-Cousinen, die sie gerade besucht hat, „schmerzhafte Briefe“, in denen sie erklärten, nun müsse der Osten in die Hände spucken. Na ja, die Erzählungen der beiden „lebhaften“ Damen aus Bochum seien ja auch „ein bissel protzig“ gewesen. Im Stillen übersetze ich vom Ostdeutschen ins Westdeutsche: Diese Wessis gehen uns ziemlich auf den Geist! Die Lebhaften hatten durch ihren Ausstieg in Halle das Abteil in plötzliche Ruhe gestürzt. Davon war ich aufgewacht.

Noch eineinviertel Stunden. Ich habe inzwischen den nächsten Anschluß in Dresden-Neustadt gespeichert: 18.53 Uhr, Ankunft in Görlitz 20.37 Uhr. Wir passieren Oschatz, aber dann, in Riesa, Bremsschaden. „Wir können vorerst die Fahrt nicht fortsetzen.“ Was heißt „vorerst“? Es ist 18.07 Uhr. Vorerst haben wir eine halbe Stunde Verspätung. Alles raus, auf den Bahnsteig. Die Bremse am Waggon 27 klemmt. „Fehlt 'n Troppen Öl“, lästert ein Mädchen. In meinem Kopf tickt die Uhr: 18.53, 18.53, 18.53 ... „Abhängen, die Leute in andere Waggons, und weiterfahren“, schlage ich vor. Vernichtende Blicke. Das war anmaßend. Denn vor dem Abhängen kommt der Wagenmeister. Der hat einen Hammer und die Entscheidungsbefugnis. Ohne seine Schirmmütze zu verlieren, kriecht der Meister unter die Nummer 27, klopft an die Bremse, Leuchtanzeigen werden abwechselnd rot und grün. „Die Bremse ist jetzt einwandfrei locker“, dringt es dumpf von unten. Komisch. Tatsächlich nur ein Tropfen Öl? „Kann gut sein“, meint der Schaffner lakonisch. Und mein Anschluß? „Is' wohl weg.“ Und der nächste? „20.20 Uhr ab Dresden- Neustadt.“ Also doch: Ich bin der Bahn ausgeliefert! Als der Zug wieder anfährt, haben wir 53 Minuten Verspätung. Ich sinke willenlos in meinen Sitz. Die Görlitzerin und ihr untertäniger Mann streiten, wo sie in Dresden die Wartezeit totschlagen können. Ich erwähne die Kneipe in Görlitz, in der ich die nun wohl schon wartenden Kollegen zu treffen gedenke und höre, daß sie nicht mehr existiert. Kurz vor Dresden meldet der Schaffner, möglicherweise warte der Anschlußzug doch auf uns. Dresden-Neustadt. Der D-Zug 230 steht noch auf Gleis 1. Raus, runter in den Tunnel, hoch, rein.

Das Görlitzer Paar bleibt mir auf den Fersen, schiebt sich in mein Abteil. Dresden ist schon verschwunden. Ich will mich leergucken, die grüne Wand da draußen aus Kiefern und Birken begucken, durch die vorgestrigen Lausitzer Dörfer im Abendlicht spazieren. Doch der Untertan ist lebhaft geworden, hat er doch was geleistet beim Umsteigen. Hat den Koffer seiner Herrin geschleppt, eine Reise getan. Er beglückt mich mit einer Führung durch seine Heimatstadt, empfiehlt Hotels, rühmt die prächtigen Häuser der alten Görlitzer Tuchhändlerfamilien und beklagt sich über die LKW-Schlangen bei der Zollabfertigung nach Polen. Mit uns im Abteil sitzt eine Frau, die in die Ukraine will. Hier beginnt Osteuropa.

Mein Stadtführer zeigt auf ein Sonnenblumenfeld in der beginnenden Dämmerung. Seiner Gattin gelingt das erste Lächeln seit Hannover. Ich stehe auf und greife nach meinem Rucksack. 20.40 Uhr, Görlitz Hauptbahnhof. In welcher Kneipe werden die Kollegen sitzen? Bettina Markmeyer